1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Und weil Lena auch bereit war, einen Großteil des Haushalts der Familie Glaser zu übernehmen, hatte sie seit einiger Zeit eine Stelle, die sie zeitlich so ausfüllte, dass sie ihren Vater morgens gar nicht und abends nur betrunken und meist schon schlafend antraf. Lediglich an den Wochenenden war sie mit ihm zusammen, allerdings hielt sich die Kommunikation in Grenzen.
Für sie war es zunehmend unerträglich geworden, seinen täglichen Verfall mitzuerleben, ohne etwas dagegen ausrichten zu können. Zudem hielt ihr Vater die vereinbarten Regeln immer weniger ein. Nun hatte Lena täglich die leeren Flaschen fortzuschaffen und die Alkoholflecken wegzuwischen, und – was weitaus unangenehmer war – alle paar Tage Erbrochenes von Möbeln und Boden zu entfernen sowie immer wieder das Bad zu putzen.
Deshalb war Lena mittlerweile dabei, sich eine eigene kleine Wohnung zu suchen, sogar ein Zimmer würde ihr genügen. Hauptsache, sie müsste nicht mehr ansehen, wie ihr Vater sich allmählich völlig aufgab, obgleich er gerade mal ein paar Jahre über 40 war.
Dazu kam, dass Lukas Wagner in letzter Zeit immer wieder einen »guten Kumpel« bei sich zu Besuch hatte, wie er diesen Mann bezeichnete. Der war Lena jedoch nicht ganz geheuer, auch weil er ihr immer recht nah kam, wenn er zu ihr redete. Ähnlich wie ihr Vater sprach auch Bruno – wie er sich nannte – dem Alkohol zu, nur wurde er im betrunkenen Zustand oft recht laut und konnte bisweilen auch ausfällig werden.
Und weil Lena Angst vor Zudringlichkeiten hatte, war sie oft spät unterwegs, bis die beiden endlich im Suff eingeschlafen waren. Dann schlich sie leise in ihr Zimmer, das sie inzwischen immer abschloss, ehe sie ins Bett ging.
Es dauerte nicht lange, bis Lena endlich etwas anderes gefunden hatte, ein möbliertes Zimmerchen mit Badbenutzung. Es war nicht allzu teuer. Zwar recht klein, aber die Fläche reichte ihr aus, da sie ohnehin nur Handgepäck mitnahm: erst einmal zwei Koffer und dann das, was sie nach und nach aus der Wohnung ihres Vaters hinausschaffen konnte.
Eines Abends hatte sie gerade ihre letzten Habseligkeiten gepackt. Ihre Möbel mussten eben dableiben. Oder sie würde sie vielleicht irgendwann einmal nachholen. Lena legte den längst geschriebenen Abschiedsbrief auf den Küchentisch. Schaute sich noch einmal in ihrem alten Zimmer um. Und verließ dann die Wohnung, in der sie so viele Jahre mit ihrem Vater zugebracht hatte. Lena war davon überzeugt, dass dies für immer sein sollte (und musste).
In dem Brief, den sie zum Abschied hinterlassen hatte, schrieb sie, dass es ihr leidtäte. Aber sie wolle von jetzt an ihren eigenen Weg gehen. Sie würde sich ab und zu melden. Ihre neue Adresse hatte sie natürlich nicht angegeben. Denn keinesfalls war sie daran interessiert, dass ihr Vater allein oder gar mit diesem Bruno bei ihr auftauchte.
Diese Gefahr schien zunächst nicht allzu groß. Doch irgendwann würde ihr Vater sicher beginnen nach ihr zu suchen. Und schon tat er Lena wieder leid. Doch wer konnte schon wissen, wie lange er noch mit seinem Saufkumpan zusammenblieb?
Welche Pläne Bruno wirklich hegte, wusste Lena nicht. Der hatte in langen Gesprächen mit Lukas Wagner einiges über seine Tochter und ihre Tätigkeit als Kindermädchen erfahren. Was Bruno nicht weiter interessierte.
Einmal jedoch hatte Lena ihrem Vater auch etwas über Kolberts Fähigkeit erzählt, seine Hautfarbe zu ändern. Es war ihr einfach so herausgerutscht. Lukas glaubte das nicht, doch er gab es an Bruno weiter. Und der begann sich für Kolbert zu interessieren.
Bruno hatte auch schon eine Idee. Von Lukas wusste er, wo Lena arbeitete. Damit kannte er Kolberts Wohnort. Und er wusste ebenfalls von Lukas, dass beide Eltern »gebildet und berufstätig« waren. Daraus schloss er, dass sie auch gut verdienten. Und bei so einem besonderen Kind würden sie sicher etwas von ihrem Geld springen lassen.
Er teilte seinen Plan Lukas mit. Der lehnte ihn entrüstet ab. Doch Bruno war hartnäckig, und es gelang ihm schließlich in langen Gesprächen mit viel Alkohol, Lenas Vater von seinem Plan zu überzeugen, den kleinen Kolbert zu entführen.
»Das bedeutet für dich das Ende deines langjährigen Elends. Es gibt ein ansehnliches Lösegeld. Und das teilen wir uns.«
»Und wie stellst du dir das vor?«, fragte Lukas. Bruno wusste von ihm, dass Lena Kolbert täglich zum Kindergarten brachte und von dort auch wieder abholte.
»Ich hab mir den Weg schon mal angeschaut«, sagte Bruno, »Es gibt da ein kurzes Waldstück. Ich verstecke mich dort und du quatschst deine Tochter an. Damit lenkst du sie ab und ich schnappe mir den Kleinen und verschwinde.«
»Und ich?« »Du tust erstaunt und spielst den Empörten.« Lukas schüttelte den Kopf. »Nein, halt Lena da raus!«
»Nach allem, was deine Kleine dir angetan hat? Haut einfach so ab und lässt dich im Stich!« Den Brief von Lena hatte Lukas Bruno gezeigt, nachdem er ihn gefunden und gelesen hatte.
»Wenn du sie ansprichst und mit ihr redest«, meinte Bruno, »hast du ne Chance, dass sie wieder zurückkommt.« »Aber nicht, wenn der kleine Junge entführt wird«, entgegnete Lukas und fuhr fort: »Nein, zieh da meine Tochter nicht mit rein.«
»Okay«, änderte Bruno seinen Plan, »wir machen es anders. Ich kidnappe den Kleinen allein. Und du bleibst in der Nähe. Wenn ich dich brauche, kommst du mit und hilfst mir.«
Damit war Lukas einverstanden. Er hinterfragte auch nicht weiter, welchen Plan Bruno nun verfolgte. Er war froh, wenn er nichts direkt mit der Entführung selbst zu tun hatte.
Und so bekam er auch nicht mit, wie Bruno seiner Tochter von hinten einen betäubenden Schlag versetzte, sich Kolbert griff und den ebenfalls einschläferte. Allerdings etwas weniger hart, indem er ein mit Äther getränktes Tuch verwendete.
So war Lena eine Weile außer Gefecht. Und das Kind würde hoffentlich erst wieder aufwachen, wenn es sicher in dem Versteck untergebracht war, das Bruno vorher ausgewählt hatte.
Lukas hockte derweil weiter entfernt in einem Gebüsch. Als Bruno mit einem Bündel kam und ihn heranwinkte, folgte er ihm ohne nachzudenken. Bis sie endlich in einem verlassenen baufälligen Haus angelangt waren.
Bruno ging zielstrebig die Stufen zum Keller hinunter, er kannte sich hier offenbar gut aus. Alles schien vorbereitet, denn Bruno öffnete eine rostige Eisentür, die zu einem leeren Raum mit rotbraunen Ziegelsteinmauern und zwei kahlen Fenstern führte. Darin stand als einziges Möbelstück ein alter Kleiderschrank, von dem die weiße Farbe zu einem Großteil abgeblättert war.
Während Bruno das noch immer betäubte Kind in den Armen hielt, wies er Lukas an, den Schrank zur Seite zu schieben. Dahinter wurde eine Lücke in der Mauer frei, durch das beide Männer mit dem entführten Kolbert stiegen.
Im nächsten Raum war es so dunkel, dass Bruno seine Taschenlampe anknipsen musste, die er bei sich führte. Zuvor schubste er Lukas im Dunkeln an: »Nimm du mal das Kind! Schließlich musst du dir deinen Anteil auch verdienen.«
Lukas fühlte die Wärme von Kolberts Körper, spürte sein langsames Atmen. Er klammerte den Jungen fest an sich, aus Angst ihn sonst fallen zu lassen. Unterdessen leuchtete Bruno mit der Taschenlampe den Raum ab.
Die Wände waren hellgrau verputzt, der Boden bestand aus braungelbem Lehm, ein engmaschiges Gitter lag in einer Ecke, daneben stand ein niedriger Tisch. In der Raummitte befand sich ein Loch. Es war jeweils gut einen Meter breit und lang.
Lenas Vater sah zu, wie Bruno in das wohl knapp zwei Meter tiefe Loch sprang und es mit seiner Taschenlampe erleuchtete. Unten lagen eine zurechtgeknickte Matratze sowie eine Decke. Lukas konnte einige Flaschen sehen, die anscheinend mit Wasser gefüllt waren. Daneben stand ein größeres Gefäß.
Bruno zeigte darauf und auf die Flaschen. »Zu essen und zu trinken hat er genug«, meinte er, »Und nun gib mir den Jungen!«
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