Lydia saß ihm gegenüber auf dem Sofa. Sie trug ihre verwaschene Jeans und einen Kaschmirpullover. Genüsslich naschte sie Pralinen aus einer mittlerweile halbleeren Packung.
„Bist du sicher, Frank, dass es ein Unfall war? Was denkst denn du über die Sache, Schatz?“ Frank hatte ihr gerade erklärt, dass sie ihr Wochenende kurzfristig anders planen mussten.
Lydia schien kein bisschen überrascht. Kühl sah sie ihn an: „Wir beide nach Amsterdam? Ein Kurzurlaub? Eine Idee von Professor Brenzal?“
„Ja, ja, ja. Wäre der Anlass nicht so traurig, würde ich sagen, ein prima Kurzurlaub.“ Lydia sah ihn abweisend an. „Das geht nicht. Ich habe morgen einen Termin in der Stadt. Da kann ich doch nicht einfach nach Amsterdam fahren! Du wirst allein fahren müssen, Liebster.“
„Aber das Hotel ist doch schon gebucht und außerdem: was hast du samstags für einen Termin in der Stadt? Beim Friseur? Lydia, sag doch einfach ab und komm mit nach Amsterdam. Dann wird es auch für mich leichter.“
Aber Lydia blieb hartnäckig. „Nein, Frank. Ich muss meinen Termin wahrnehmen. Außerdem habe ich gar keine Lust nach Amsterdam zu fahren. Und dann vielleicht den ganzen Samstag noch allein in der großen Stadt herumlaufen, während du bei der Polizei bist. Nein, fahr‘ du ruhig allein.“
„Der Termin bei der Polizei wird nicht so lange dauern. Ab Mittag können wir uns irgendwo treffen und zusammen essen gehen. Danach machen wir eine Besichtigungstour durch die Stadt. Und abends gehen wir groß aus.“ Frank stellte sich das recht nett vor. Amsterdam würde bestimmt interessant werden. „Und du kannst dir dort ein hübsches neues Kleid zulegen.“ Wenn es um Kleider ging, war Lydia eigentlich nie abgeneigt. Diesmal schien er sie damit aber nicht locken zu können.
„Nein, nein und nochmals nein. Ich habe mich entschieden. Du kannst mich schließlich nicht dazu zwingen!“ Lydia wurde schon wieder zornig. Nach der letzten Woche der Ruhe und des Friedens benötigte Frank nun nicht wieder Zank und Streit. Beschwichtigend lenkte er ein.
„Gut, gut. Fahr‘ ich eben alleine. Aber beschwere dich später nicht, dass du einen prima Kurzurlaub verpasst hast.“
Lydia sah ihn wieder so merkwürdig an. „Ich pack‘ dir ein paar Sachen ein. Du kannst dann direkt fahren, wenn du möchtest. Holst du mir den großen Koffer aus dem Wandschrank?“
Frank schüttelte den Kopf. Für zwei Tage brauchte er keinen großen Koffer. „Meine Reisetasche reicht. Ich fahre ja nur für zwei Tage, nicht für zwei Wochen. Außerdem streiche ich das Abendprogramm und die Stadtbesichtigung und komme direkt nach der Identifizierung Dr. Schwenkers wieder zurück. Dann können wir den Samstagabend hier zusammen verbringen. Vielleicht sollten wir uns in Frankfurt ein schönes Lokal suchen. Was meinst du, Lydia?“
Lydia schien zwar nicht übermäßig begeistert, gab aber ihre abweisende Haltung ein wenig auf. Seine Sachen waren schnell gepackt und bald standen sie zusammen in der kleinen Diele. Lydia nahm ihn fest in den Arm. „Leb‘ wohl, Liebster. Ich werde dich vermissen.“
„Na, Lydia, morgen bin ich doch wieder da. Du tust ja so, als wäre dies ein Abschied fürs Leben!“ Frank war schon öfter für längere Zeit fort gewesen und nie hatte Lydia beim Abschied solch ein Theater gemacht. „Was ist los, Lydia? Geht es dir nicht gut?“
„Doch, doch, alles in Ordnung.“ Jetzt hatte sie Tränen in den Augen und wischte sie heimlich fort. Frank tat, als hätte er es nicht bemerkt. Wieso ging ihr die Trennung für diesen einen Tag so nahe?
Dann befand er sich endlich auf der holländischen Autobahn Richtung Amsterdam. Entgegen seinen Erwartungen kam er doch recht zügig voran. Ein paar kleinere Staus, die ihn jedoch nicht allzu lange aufhielten. Aber insgesamt musste er doch eine ordentliche Strecke fahren, bis er an seinem Ziel ankam. Mittlerweile war es auch stockdunkel geworden, aber er rechnete damit, noch vor Mitternacht im Hotel anzukommen. Ein paar Stunden Schlaf waren ihm dann sicher. Sein Termin mit dem Hauptkommissar fand gegen zehn Uhr statt und selbst wenn er einige Zeit zur Pathologie brauchen würde, das Ausschlafen morgen war ihm doch einigermaßen sicher.
Es musste kurz hinter Utrecht gewesen sein, als Frank den Ruck am Heck seines Wagens spürte. Hastig schaute er in den Rückspiegel. Verdammt, was war das? Fast hätte er die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Er schleuderte ein wenig, hielt aber zum Glück die Spur einigermaßen. Erkennen konnte er nicht viel, da ihn die Lichter des hinter ihm fahrenden Fahrzeuges zu sehr blendeten. Gut, dass er sich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen gehalten hatte. Wäre er schneller gewesen, wer weiß, was passiert wäre.
Instinktiv schaute Frank nach links. Der Wagen hinter ihm setzte zum Überholen an. Dann fuhr ein schwarzer Kombi mit ihm auf gleicher Höhe. Die Fenster des Fahrzeugs waren dunkel getönt, so dass er den Fahrer nicht erkennen konnte. Wieso überholte der denn nicht? Frank ging vorsichtig vom Gas herunter. Der schwarze Wagen gewann etwas Vorsprung, musste dann aber das Tempo verringert haben, so dass er jetzt wieder neben ihm fuhr. Frank sah erneut in den Rückspiegel. Die Autobahn hinter ihm schien leer zu sein. Sollte er bremsen? Frank überlegte noch, was zu tun wäre, tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als der Wagen neben ihm plötzlich einen Schlenker nach rechts machte und ihm in die Seite krachte.
Jetzt konnte Frank seinen Wagen nicht mehr halten. Seine willkürlichen Gegenlenkbewegungen brachten sein Fahrzeug immer mehr ins Schleudern. Er hatte sich auf einer Brücke befunden und Frank sah sich schon durch das Brückengeländer rasen und abstürzen, als der Wagen endgültig nach rechts ausbrach und knapp hinter der Brücke eine leichte Böschung hinauffuhr. Mit einem Krachen schleuderte das Heck herum und er kam zum Stehen.
Frank war ganz benommen. Verschwommen sah er durch die Windschutzscheibe die Brücke und den Abgrund vor sich. Ein paar Meter früher und er wäre mit Sicherheit abgestürzt. Zischend atmete er aus. Vorsichtig und wie in Trance befreite er sich schließlich vom Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und stolperte aus dem Wagen. Dann setzte er sich erst einmal in das feuchte Gras neben sein Fahrzeug. ‚Glück gehabt‘, ging es ihm durch den Kopf.
Wie lange er so dagesessen hatte, konnte Frank nicht mehr sagen. Plötzlich legte sich ihm eine Hand auf die Schulter und eine Männerstimme sagte mit holländischem Akzent: „Brauchen sie Hilfe? Haben sie einen Unfall gehabt?“ Frank hatte nicht bemerkt, wie der Motorradpolizist auf dem Standstreifen angehalten hatte. „Ich, ich, ...“
„Soll ich einen Arzt rufen, sind sie verletzt? Haben sie Alkohol getrunken?“ Der Polizist schaute ihn prüfend an und sprach dann etwas in ein Funkgerät. „Hilfe wird gleich kommen. Bleiben sie bitte ruhig sitzen!“
Frank hatte nicht vor, aufzustehen. Er schaute auf seinen Wagen. Die linke Seite stand zur Böschung und war etwas beschädigt. Ansonsten schien der Wagen nicht viel abbekommen zu haben. Der Polizist sprach ihn wieder an: „Sind sie in der Lage, mir Auskunft zu geben? Können sie mir ihre Papiere zeigen? Ausweis, Fahrzeugpapiere.“
Frank reichte ihm die gewünschten Dokumente.
„Herr Dr. Frank Rudak?“ Der Polizist wollte eigentlich lediglich eine Bestätigung. Frank nickte.
„Dann erzählen sie doch einmal, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Sind sie mit einem Alkoholtest einverstanden?“
Frank bejahte. Schon hielt ihm der Beamte ein kleines Gerät hin, in das er pusten musste. Was aber sollte er dem Polizisten erzählen? Ich wurde von einem Wagen gerammt? Ich bin Gott sei Dank nur noch neunzig gefahren, sonst läge ich vermutlich dort unten? Frank beschloss diese unglaubliche Geschichte für sich zu behalten.
Читать дальше