„Liebe Steffi, liebe Gäste!“, begann er seine Rede. „Heute ist ein großer Tag für unsere Familie und ich freue mich, ihn mit euch zusammen begehen zu dürfen. Für unseren kleinen Sonnenschein beginnt nun ein neuer, aufregender Lebensabschnitt, unsere Steffi wird langsam erwachsen und zu einer kleinen Dame.“
Tobias langweilte sich. Er hatte Hunger und diese lange Rede zögerte das Essen nur weiter hinaus. Der Junge dachte an seine Kommunionsfeier. Sein Vater hatte damals auch etwas gesagt, keine Rede gehalten, sondern ihn lediglich ermahnt, dass jetzt für ihn ‚der Ernst des Lebens‘ beginnen würde. Ein Spruch, den er schon von seiner Einschulung her kannte und den er bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit zu hören bekam.
Tobias hörte seinem Vater kaum mehr zu. Nur als dieser von den ‚hervorragenden schulischen Leistungen‘ seiner Tochter sprach, horchte er kurz auf. Stefanie war höchstens Durchschnitt in der Schule, aber für seinen Vater schien sie so eine Art Wunderkind zu sein. Endlich endete die Rede und alle klatschten begeistert in die Hände. Sein Vater verbeugte sich lächelnd und nahm wieder Platz. Tobias ignorierte das Brennen in seinem Magen, würde er doch jetzt endlich etwas zu essen bekommen.
Doch da hatte er sich zu früh gefreut. Zunächst erhielt seine Schwester ihre Geschenke und Onkel Hendrick wollte der erste sein und drängte sich vor. Tobias bemerkte voll Schadenfreude den ärgerlichen Gesichtsausdruck seines Vaters. Eigentlich sollten die Eltern die ersten sein, von denen Stefanie ihre Geschenke erhielt. Der Onkel hielt seiner Schwester ein kleines Päckchen hin. „Aufmachen, aufmachen“, skandierte er und stand grinsend neben dem kleinen Mädchen.
„Wo ist denn unser Geschenk?“, fragte sein Vater. „Das sollte sie aber zuerst bekommen!“
Der Onkel nickte: „Im Auto. Ich hole es sofort. Jetzt soll unsere kleine Prinzessin aber erst einmal ihr Geschenk auspacken!“
Hastig riss Stefanie das Papier auseinander und eine kleine, blaue Schachtel kam zum Vorschein. Der Onkel, dem das offensichtlich nicht schnell genug ging, nahm das Päckchen an sich und klappte es auf. Dann hielt er das Geschenk hoch, so dass alle den Inhalt erkennen konnten. Ein kleiner silberner Ring mit einem wunderschönen Stein darauf lag auf rotem Samt in dem kleinen Kästchen. Der Onkel verkündete stolz: „Das ist ein echter Diamantring von einem halben Karat! Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, damit dir, liebe Steffi, der heutige Tag in guter Erinnerung bleibt. Und jetzt gib mir deine Hand, damit ich dir den wertvollen Ring anstecken kann.“
Tobias empfand einen Stich in seinem Inneren. Er hatte zwar keinerlei Idee, was ein ‚halber Karat‘ war, aber die bewundernden Blicke der anderen sagten ihm, dass dieser Ring sehr wertvoll sein musste. Er empfand Neid und dachte daran, dass das Wertvollste, was ihm der Onkel bisher geschenkt hatte, sein Taschenmesser war. Tobias trug es immer bei sich und jetzt wanderte seine Hand in die Tasche und umfasste das kühle Metall. Dieses Messer hatte ihm schon viel Freude geschenkt! Das hässliche Gefühl des Neides ließ etwas nach und er wurde ruhiger.
Der Onkel verließ den Raum und kehrte kurze Zeit später mit einem grauen Plastikkasten zurück, an dem vorne eine Gittertüre angebracht war. Tobias konnte nicht erkennen, was sich in dem Kasten befand, so sehr er auch seinen Hals reckte. Er sah nur, dass etwas auf den Boden tropfte und eine feuchte Spur hinterließ. Der Onkel gab seinem Vater den Kasten und jetzt erhob sich auch seine Mutter von ihrem Platz und beide traten gemeinsam zu Stefanie.
„Liebe Steffi“, hob sein Vater zu sprechen an und Tobias stöhnte innerlich auf. Würde er jetzt wieder eine Rede halten? Das hatte gerade noch gefehlt! „Dein neuer Lebensabschnitt bedeutet auch das Übernehmen von Verantwortung. Verantwortung, die du dir schon lange gewünscht hast und deine Mutter und ich freuen uns, dir diesen Wunsch nun endlich erfüllen zu dürfen.“
Er öffnete die Tür des Kastens, griff hinein und zog ein kleines, braunes Bündel hervor, das er seiner Tochter in den Arm legte. Stefanie traten vor Freude die Tränen in die Augen. „Ein Hund, ein echter Hund“, lächelte sie glücklich und streichelte über das weiche Fell.
„Das ist ein Beagle“, erklärte jetzt die Mutter und der Vater fügte hinzu: „Das will jedenfalls mal einer werden. Und du, kleine Prinzessin, darfst dem Hundewelpen einen Namen geben! Der kleine Kerl gehört jetzt dir alleine.“
Stefanie setzte den Hund auf den Tisch neben ihren Teller und eine Gabel fiel klirrend zu Boden. Sie sprang auf und umarmte ihren Vater stürmisch. „Du bist der beste Papa der Welt!“ Dann nahm sie die Mutter in den Arm. „Und du bist die beste Mama der Welt! Ihr alle beide seid die besten der Welt.“
Jetzt traten die Eltern seines Vaters hinzu und der Opa hielt ein dünnes, blaues Buch hoch. „Dies, liebe Steffi, ist ein Sparbuch. Von der Post. Es möge den Grundstein für deine Zukunft legen. Oma und ich haben lange gespart und sage und schreibe zehntausend D-Mark darauf eingezahlt. Spare in der Zeit und du hast in der Not! Deine liebe Oma und ich wünschen dir von ganzem Herzen alles, alles Gute für die Zukunft.“
Tobias trat Tränen in die Augen, die er rasch fortwischte. Ihm hatten die Großeltern zu seiner Kommunion nicht einmal eine Karte geschickt.
Stefanie nahm das Buch entgegen, hörte dem Opa aber kaum zu, da sie ununterbrochen mit dem kleinen Hund schmuste. Tobias stellte mit Genugtuung fest, dass sich auf dem weißen Kleid seiner Schwester ein gelber Fleck ausbreitete. Aber außer ihm schien das niemandem aufzufallen.
Endlich wurde das Essen serviert. Ein Kellner wischte die Spur auf, die der Hund beim Hereintragen hinterlassen hatte und Stefanie bekam einen neuen Teller und neues Besteck, da der Hund alles verschmutzt hatte. Während des Essens behielt seine Schwester das Tier auf dem Schoß. Die Geschenke landeten auf dem dafür vorgesehenen Tisch und einige weitere Pakete, die noch nicht geöffnet waren, kamen hinzu.
Das Essen begann mit einer Vorspeise, die aus Baguette, Obst und irgendwelchen roten Scheiben bestand, die Tobias nicht kannte. Dazu gab es kleine Schälchen mit einer weißen Paste. Tobias beobachtete die anderen verstohlen, um zu sehen, wie sie mit dem für ihn unbekannten Essen umgingen. Dann strich er die Paste ebenfalls auf die roten Scheiben, so wie er es bei dem Onkel sah. Die Tante und seine Mutter nahmen etwas auf ihr Brot und aßen die roten Scheiben mit sichtlichem Genuss ohne Pastenaufstrich.
Tobias Magen knurrte und der Junge stopfte sich die Scheiben und das Brot rasch in den Mund. Ein fürchterlich scharfer Geschmack breitete sich in Mund und Rachen aus. Die Scheiben schmeckten merkwürdig nach Fisch und Tobias hätte sie am Liebsten wieder auf den Teller zurückgespuckt. Es war einfach nur ekelhaft. Doch ausspucken kam nicht in Frage, denn dann hätte er sich garantiert den Zorn seiner Eltern zugezogen. Stefanie kaute derweil an irgendwelchem Obst, sie hatte keine so widerlichen roten Scheiben auf ihrem Teller.
„Hervorragender Lachs“, hörte er seinen Onkel sagen. „Eine sehr gute Wahl, Manfred!“
„Danke nicht mir“, erwiderte sein Vater mit vollem Mund. „Das Essen hat Birgit ausgesucht. Du wirst Augen machen, was es als Hauptspeise gibt!“
Tobias versuchte die Scheiben, die sein Onkel ‚Lachs‘ nannte, ohne zu kauen herunterzuschlucken. Sein Mund brannte höllisch und er sehnte sich danach, etwas zu trinken. Doch der Lachs rutschte einfach nicht und plötzlich rebellierte sein hungriger Magen. Tobias erbrach sich würgend auf den Boden.
„Verdammt Junge“, brüllte sein Vater. „Was ist bloß mit dir los? Du benimmst dich wie ein Schwein!“
Alle Augen richteten sich auf den Jungen und die Eltern seines Vaters schüttelten vorwurfsvoll den Kopf. Eine Kellnerin eilte mit einem Eimer Wasser und einem Lappen herbei.
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