»Ich komme mit«, sagte Hinnerk. »Vielleicht ist „Trixi“ mir gegenüber etwas mitteilsamer. Vor allem, was die verflossenen Liebhaber von Leona betrifft. Ich glaube einfach nicht, dass sie keinen mit Namen kennen will. Das wäre das erste Mal, dass sich Freundinnen nicht über nähere Einzelheiten austauschen.«
»Bitte, wenn du mich für unfähig hältst«, meinte Valerie spitz. »Dann lass deinen berühmten Charme spielen.«
Der zweite Besuch bei Beatrice Röder brachte auch keine neuen Erkenntnisse. Sie wollte jeweils nur die Vornamen der Liebhaber von Leona Wolfhard gekannt haben, doch keine Nachnamen und erst recht keine Adressen. Blieb also nur die Überprüfung der männlichen Anrufer auf der Liste, dachte Hinnerk und ihm grauste schon vor der Kleinarbeit, die kaum etwas bringen würde, weil es auf der Hand lag, dass der Täter eher einer der Anrufer aus einer der öffentlichen Telefonzellen war. Kaum anzunehmen, dass er von seinem Privatanschluss aus telefoniert hatte. Es sei denn, die Tat war eine Kurzschlusshandlung gewesen, aus welchen Gründen auch immer.
Warum sie Valerie gegenüber den nächtlichen Anruf bei der Freundin verschwiegen hatte, beantwortete Beatrice, indem sie meinte, einfach neugierig gewesen zu sein, wie der Contest verlaufen war. Als Leona nicht antwortete, war Beatrice davon ausgegangen, dass es noch eine anschließende Feier bis in die Nacht gegeben hatte. Sie habe sich erst Sorgen gemacht, als sie auch am Morgen Leona nicht erreichte, deshalb der Zettel an der Tür. Nein, ein Handy habe Leona nicht besessen, weil sie diese Dinger aus Überzeugung hasste, und selbst ein geschenktes links liegen ließ. Somit war es ihr also nicht gestohlen worden, wie Valerie anfangs vermutet hatte.
Der Anruf bei ihrer Mutter verlief sehr kurz und unterkühlt, da Karen Voss offensichtlich übel nahm, dass ihre Tochter nicht alles hatte stehen und liegen lassen, um sich um das Seelenheil von Karen zu kümmern. So ging Valerie wie beabsichtigt früh zu Bett und dachte mit einigem Bauchgrimmen an den bevorstehenden Besuch bei ihrer Mutter am nächsten Tag.
Im Nachbarbezirk Schöneberg wurde ein junger Mann wie so oft in der Nacht von schweren Träumen geplagt, die eigentlich Kindheitserinnerungen waren. Er sah sich als pubertierender Junge, der von seiner Mutter auf der Toilette beim Onanieren überrascht wurde.
„Was machst du da, du Schwein?“, fuhr ihn die resolute Frau an. „Wenn ich das deinem Vater erzähle, kommt er her und hackt dir die Hände ab.“
Er hatte damals ziemlich genau gewusst, dass sein Vater nicht wiederkommen würde. Nicht einmal wegen der Unkeuschheit seines Sohnes, die von der Mutter als Todsünde bezeichnet wurde. Aber eine Restangst war immer geblieben, dass der schmerzlich vermisste Vater doch wieder in der Tür stehen und sich in seiner Hand ein Fleischerbeil befinden würde.
Dann wechselte meist die Szenerie. Jetzt sah er sich in seinem Bett liegen und mit Leidenschaft wichsen, wie seine Schulkameraden das Onanieren bezeichneten. Ängstlich zwischendurch nach nebenan lauschend hatte er Erguss um Erguss, deren Spuren er nicht etwa in Papiertaschentücher wischte, die seine Mutter finden konnte, sondern auf seinem Oberschenkel verteilte. Die Pigmentflecken würde er ein Leben lang mit sich herumtragen, aber darüber hatte er sich in seinem jugendlichen Alter noch keine Gedanken gemacht.
Eine andere Erinnerung kehrte auch nachts stets wieder. Wie er als Kind von etwa zwölf Jahren nach der Katechismusstunde als einziger beim Kaplan zurückgeblieben war. Er hatte sich auf den Schoß des Mannes setzen müssen, der ihn gestreichelt und geküsst hatte. Irgendwann waren dann die Finger des Erwachsenen immer am Hosenschlitz des Jungen gelandet. Die Berührung hatte zwar sein kleines Glied steif werden lassen, aber er hatte keine Lust dabei empfunden, im Gegenteil. Er hatte sich geekelt, den schalen Atem des Kaplans riechen zu müssen, und die weißen weichen Finger an seinem Genital zu spüren. Nie und nimmer hätte er sich getraut, seiner Mutter davon zu erzählen. Die hätte ihn ohnehin nur als Lügner bezeichnet und es als eine Schande betrachtet, dass der Sohn einen Gottesmann verleugnete.
Es war eine große Befreiung für ihn gewesen, als die Katechismusstunden nach der heiligen Erstkommunion aufgehört hatten, aber in seinen Träumen durchlebte er sie wieder und wieder.
Dafür hatte die Erstkommunion eine andere peinliche Zeremonie mit sich gebracht, die der Beichte. Anfangs war es den Kindern äußerst unangenehm gewesen, einem fremden Erwachsenen die intimsten Geheimnisse anzuvertrauen. Außerdem fiel es mit der Zeit schwer, von immer neuen Verfehlungen zu berichten, um sich nicht zu wiederholen oder als unverbesserlich darzustellen.
Die frecheren unter den Klassenkameraden hatten ganz offen darüber gesprochen, wie sie sich oft etwas ausdachten, das sie beichten konnten. So hatte er sich auch geholfen, immer in Angst lebend, der Beichtvater könnte alles seiner Mutter erzählen, bis er erfahren hatte, dass selbst Mörder keine Angst vor der Verletzung des Beichtgeheimnisses zu haben brauchten. Ein Umstand, der ihm große Erleichterung gebracht hatte. Damals hatte er sich freilich noch nicht vorstellen können, dass diese Belange einmal eine Bedeutung in seinem Erwachsenenleben haben würden.
Karen Voss ließ Valerie wortlos eintreten. Ihr Gesichtsausdruck war derart verächtlich, als sei Valerie die Schuldige an diesem Familiendrama.
»Hast du dich tatsächlich freimachen können«, sagte sie ironisch.
»Mama, ich habe einen Beruf, der mich voll und ganz fordert, deshalb unterlass es bitte, mir ständig Vorwürfe zu machen. Ich bin hier und höre dir zu. Genügt dir das nicht?«
Karens Stimmung wechselte von einer Sekunde zur anderen. Sämtliche Spannung wich aus ihrem Körper und sie begann haltlos zu weinen. Valerie nahm ihre Mutter in die Arme und küsste ihr die Tränen vom Gesicht.
Karen Voss war für ihr Alter von Mitte fünfzig sehr attraktiv und insgesamt eine gepflegte Erscheinung. Kaum einer ahnte, dass ihre hellbraunen Haare nicht mehr ihre Naturhaarfarbe hatten, denn Karens Friseur hatte frühzeitig begonnen, den ersten grauen Strähnen den Garaus zu machen. Sie war schlank und hatte eine makellose Haut. Sicher, am Dekolleté und in den Augenwinkeln machten sich erste Fältchen bemerkbar, und der Busen und die Oberschenkel waren nicht mehr so straff wie ehemals, doch grundsätzlich wurde sie von allen für jünger gehalten.
Nur gegen eine zwanzig Jahre jüngere Frau war sie chancenlos, wie sich jetzt herausstellte. Zumindest, wenn der Mann den zweiten oder gar dritten Frühling erlebte und eine knackige Figur einer innerlich gewachsenen Beziehung vorzog.
»Er hat gestern mit einem einzigen Koffer das Haus verlassen, der Mistkerl«, sagte sie mit belegter Stimme. »Meine besten Jahre habe ich ihm geopfert.«
»Er dir auch, Mama, vergiss das nicht«, sagte Valerie vorsichtig.
»Sag mal auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte Karen erbost.
»Auf keiner. Ich habe euch beide lieb und versuche jedem gerecht zu werden. Ihr habt viele schöne Jahre miteinander verbracht, mehr als so manche Paare. Und wenn Papa meint, er müsse sich noch einmal etwas beweisen, dann ist das für dich zwar schmerzlich, aber du wirst es nicht verhindern können.«
»Soll ich vielleicht seelenruhig zusehen und noch sagen: Wenn du zurückkommen willst, steht dir jederzeit die Tür offen?«
»Wenn du klug bist, ja. So manche verlassene Ehefrau hat ihre unnachgiebige Härte später bereut. Sieh mal, es kann doch leicht sein, dass er sich etwas viel vorgenommen hat. Eine jüngere Frau stellt höhere Ansprüche, auch im Bett.«
»Du bist geschmacklos.«
»Nur realistisch, Mama. Lass ihn sich die Hörner abstoßen. Und wenn es Zoff in der neuen Beziehung gibt, bist du da, um ihn aufzufangen. Ich weiß, das ist ein Kraftakt ohne Gleichen, aber die Chance, dass du als Siegerin hervorgehst, ist immerhin gegeben. Wenn du die Scheidung verlangst, verlierst du alles.«
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