»Ruft schon wieder die Pflicht?«, brummelte der gutaussehende Bettgenosse und rieb sich die Augen.
»Steh auf und schmeiß die Kaffeemaschine an, während ich dusche«, sagte die hübsche junge Frau mit den kurzen weißblonden Haaren, die in solchen Momenten wegen ihrer tadellosen Figur keine Probleme mit ihrer Nacktheit hatte. »Wir müssen gleich los. Man erwartet mich an einem Tatort.«
»Mei, warum muss ich denn in aller Herrgottsfrühe aufstehen, wo wir kaum ein paar Stunden geschlafen haben?«
»Das ist nicht nur im Mai, sondern auch in jedem anderen Monat so, weil wir keine feste Beziehung haben und du über eine eigene Wohnung verfügst. Fang nicht immer wieder mit dem alten Thema an.«
Kurze Zeit später stand Valerie Voss mit schwarzen Stilettos, engen Jeans, einem weißen Top und ihrer heißgeliebten grauen, engen Lederjacke in der offenen amerikanischen Küche und trank hastig ihren Kaffee.
»Und warum hast du mich dann heute Nacht erst reingelassen?«, fragte Alexander Schumann.
»Weil ich deinem Dackelblick manchmal nicht widerstehen kann. Besonders, wenn mein Hormonhaushalt einen gewissen Pegel erreicht hat. Außerdem sahst du wie ein geprügelter Hund aus, der an Mamas Brust wollte. In solchen Momenten bekomme ich Muttergefühle.«
»Was wäre so schlimm daran, wenn ich hierbliebe?«
»Alex, morgens habe ich keine Lust auf Grundsatzdiskussionen. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass mein Beruf mir keine Zeit für eine Beziehung lässt. Und jetzt komm, die Kollegen warten.«
»Darf ich wenigstens noch pissen gehen?«
Alex schlug bei offener Badezimmertür sein Wasser ab, hörte aber nicht auf zu reden. »Ich werde nie begreifen, warum du diese Wohnung genommen hast. Das Bad hat noch nicht einmal ein Fenster, und das Wohnzimmer ist ein dunkles Loch. Zu dir hätte viel besser ein großzügiges Loft gepasst.«
»Was soll ich mit zwei- bis dreihundert Quadratmetern? Ganz abgesehen von den Kosten«, sagte Valerie. Allein diese Wohnung mit ihren zweieinhalb Zimmern kostete über achthundert Euro, also mehr als ein Drittel ihres Gehaltes. »Und in einer WG hausen mit Musikern oder anderen Künstlern will ich auch nicht, meine Ruhe ist mir heilig.«
»Und warum muss es dieses beschissene Kreuzberg sein? Wo in einer Tour von deinen Kollegen Razzien durchgeführt und von Chaoten Autos abgefackelt werden?«
»Deshalb habe ich kurzzeitig mit dem Gedanken ge-spielt, eines dieser Car Lofts hier in der Straße zu mieten. Da könnte mein Wagen auf dem Balkon stehen. Aber als ich den Preis hörte, und dass man sich auf Listen eintragen muss, wenn man den Autolift benutzen will, habe ich gerne drauf verzichtet. Aber deshalb muss ich nicht gleich auf ganz Kreuzberg verzichten, wo ich den Frieur und den Zeitungsladen vor der Tür habe, ebenso wie viele Kneipen und Restaurants«, sagte Valerie selbst-bewusst, »und wenn du nicht gleich fertig bist, gehst du, wie du bist. Damit das klar ist.«
Unten auf der Straße steuerte Valerie auf ihren dunkelgrünen VW Karmann-Ghia aus den siebziger Jahren zu, der schon ihren Eltern gehört hatte und den sie noch mehr als ihre graue Lederjacke liebte. Angesichts des Vandalismus in ihrer Umgebung war sie allerdings froh, dass ihr Vater damals kein Cabriolet, sondern ein Coupé gewählt hatte, denn ein Stoffverdeck hätte man wohl in dieser Gegend alle naselang erneuern müssen. So schön es auch sein mochte, bei schönem Wetter mit offenem Verdeck zu fahren.
»Soll ich dich mitnehmen? Ich muss Richtung Hallesches Tor und kann dich an der U-Bahn absetzen«, fragte Valerie knapp.
»Zu gütig. Die U-Bahn erreiche ich von hier aus auch«, antwortete Alex immer noch verstimmt.
»Auch noch beleidigt der Herr, also dann, bis bald!«
Am Askanischen Platz wurde Valerie schon von ihrem Kollegen Hinnerk Lange erwartet. In ihrer Dienststelle wurden sie oft spöttisch „Hanni und Hinni“ genannt, angelehnt an die Kinderbuchfiguren Hanni und Nanni, seitdem Valeries zweiter Vorname Hanna die Runde gemacht hatte. Hinnerk war, im Gegensatz zu Valerie mit ihren fünfundzwanzig Lenzen, schon Anfang dreißig und fiel durch seine zusammengebundenen, dunkelblonden, langen Haare auf. Sein markantes Gesicht, der sportlich trainierte Körper und sein akkurater Kleidungsstil ließen mitunter Zweifel darüber aufkommen, ob er wirklich ein Hetero war, aber spätestens seine Blicke für hübsche, junge Frauen belehrten alle eines Besseren.
»Hi, sind die Kollegen von der Rechtsmedizin schon an der Arbeit?«, begrüßte ihn Valerie.
»Selbstredend. Komm, schau dir die Tote an!«
Valerie folgte Hinnerk zu der großzügig abgesperrten Grünfläche und begrüßte die Kollegen der Spurensicherung.
»Morgen, Jungs, kann man schon Näheres sagen?«
»Morgen, auch schon da?«, fragte ein grinsender Bursche mit Sommersprossen und roten Haaren, der in seinem weißen Tyvek, einem papiervliesartigen Faserfunktionstextil-Schutzanzug mit Kapuze, entfernt an einen Teletubbie erinnerte.
»Der Ober hat sich mit dem Spezialfrühstück extra viel Zeit gelassen«, frozzelte Valerie. »Außerdem musste ich noch eine Schönheitsmaske auflegen, um die Spuren der Nacht zu beseitigen.«
»Hat aber nicht viel gebracht, oder? Nein, vergiss es. Spuren sind ein gutes Stichwort. Es gibt kaum welche. Entweder der Täter hat sich besonders vorsichtig verhalten oder es hat hier jemand aufgeräumt.«
»Hübsche junge Frau«, meinte Hinnerk. »Kommt mir irgendwie bekannt vor. Um wen handelt es sich?«
»Um Leona Wolfhard, wohnhaft in der Schöneberger Martin-Luther-Straße, sechsundzwanzig und ledig. Und bevor die Frage kommt, was sie hier mitten in der Nacht gemacht haben kann, anhand eines Coupons können wir davon ausgehen, dass sie drüben im Tempodrom an einem Lookalike-Contest teilgenommen hat.«
»Demnach ist sie schon einige Stunden tot?«, fragte Valerie nach.
»Jep, Todeszeitpunkt zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr morgens, Todesursache Genickbruch«, mischte sich ein schlaksiger Bursche der Rechtsmedizin ein.
»Gibt es Anzeichen dafür, ob man sie hierher geschleppt hat, oder ist das auch der Tatort?«, wollte Valerie wissen.
»Vermutlich Letzteres. Keine erkennbaren Spuren von Gegenwehr. Es muss sie eiskalt erwischt haben.«
»Oder sie hat den Täter gekannt«, sagte Hinnerk.
»Dafür spricht, dass noch alle Wertgegenstände vorhanden sind, also kein Raubmord«, antwortete der Rothaarige.
»Hatte sie ein Handy dabei?«, fragte Valerie.
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Ob der Täter seine DNA hinterlassen hat, werdet ihr später erfahren. Unter ihren Fingernägeln ist jedenfalls auf den ersten Blick nichts«, meldete sich Knud, der Rechtsmediziner, erneut zu Wort.
»Gut, ich erwarte dann euren Bericht.« Valerie machte kehrt und sprach kurz mit einem anderen Kollegen der Spurensicherung. Dabei ließ sie sich etwas in die Hand drücken, wie Hinnerk auffiel, und lief zu ihrem Wagen zurück.
»Hallo, wohin des Wegs, werte Kollegin, wenn man fragen darf?«, rief ihr Hinnerk hinterher.
»In die Wohnung des Opfers. Vielleicht finden wir dort einige Hinweise.«
»Darf ich mitkommen? Oder bist du heute auf Alleingang aus?«
»Im Gegenteil, vier Augen sehen mehr als zwei.«
Die beiden Kommissare fuhren hintereinander in Richtung Innenstadt. Valerie überlegte kurz, ob sie ihren Karmann Ghia im LKA abstellen und in den gemeinsamen Dienstwagen, eine VW Polo Limousine, umsteigen sollte, verwarf aber den Gedanken, weil es nur einen Katzensprung von der Martin-Luther-Straße zur Keithstraße war. Anders als die Kollegin Roth fuhren sie keinen VW Phaeton, die wesentlich luxuriösere Ausführung einer VW Limousine. Aber wenn man den Gerüchten glauben konnte, sollte auch die bald ein preiswerteres Modell fahren.
Vor der Wohnung des Opfers angekommen, entdeckten Valerie und Hinnerk einen Zettel, der an die Tür geklebt war.
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