„Ja Schatz.“
Er warf die Tür zu und ging ins Wohnzimmer.
„Alles gut?“, fragte seine Frau.
„War nicht weiter wichtig.“ Harchinger hockte sich zu seinen Kindern an das Playmobilschloss. Seine Gedanken galten jedoch nicht dem Spiel, sondern der Zukunft der Bundesrepublik. In zehn Minuten würde er die Kinder ins Bett bringen und während seine Frau die Gutenachtgeschichte vorlas, würde er Heinrichs anrufen und eine Aufklärung von ihm fordern.
2.
20. SEPTEMBER | EIN TAG BIS ZUR BUNDESTAGSWAHL
Bühler Stammhaus | 20 Uhr
Das kräftige Klopfen beendete von Carstheims ungeduldiges Auf- und Abwandern.
„Herr Freiherr, die Herren Gruber und Grahammer sind eingetroffen.“
„Ich komme“, antwortete von Carstheim und nach wenigen Sekunden trat er aus der lederbeschlagenen Tür seines Arbeitszimmers.
„Georg, wir werden Geschichte schreiben.“
„Wie Sie meinen.“
Von Carstheim überging die gelangweilte Reaktion seines Butlers. Jede zweite Stufe überbrückend lief er die Treppe hinab ins Erdgeschoss. Die vier abschließenden Stufen überwand er mit einem Satz. Der leichtfüßige Absprung und die federnde Landung verrieten, dass es sich bei ihm um einen geübten Fechter handelte. Mit weit ausholenden Schritten durchlief er den dahinterliegenden Saal und durch einen mit edlen Wandteppichen geschmückten Korridor stürmte er in den Wintergarten, der die Ausmaße eines Handballfeldes besaß.
„Guten Abend. Sie wurden von meinem Butler versorgt?“ Von Carstheim verlangsamte seine Schritte.
„Bestens“, sagte Grahammer, der an dem venezianischen Tisch saß, der den Mittelpunkt des Wintergartens bildete. Grahammer war über zwei Meter groß. Den Menschen, die ihn nicht kannten, fiel es schwer, zu akzeptieren, dass dieser vollbärtige Gigant der Chef der ständigen bayerischen Vertretung in Berlin war. Sein fränkischer Akzent vertiefte diese Ungläubigkeit noch.
„Natürlich tragen wir eine gewisse Nervosität in uns“, sagte der zweite Mann am Tisch. Er hieß Anton Gruber und war deutscher Innenminister a. D. Die Presse hatte ihm fehlerhaftes Verhalten bei den April-Ausschreitungen vorgeworfen. Vor zwei Jahren war es in Deutschland zu heftigen Demonstrationen gekommen, weil die Bevölkerung die extremen Einschnitte im Sozialstaat nicht widerstandslos hingenommen hatte. Einen Monat lang hatten die Bürger gegen die Europa-Politik der Regierung protestiert. Die Situation auf der Straße war eskaliert und Gruber hatte auf Härte gesetzt. Der unnachgiebige Einsatz von Wasserwerfern und Polizeikräften hatte die Empörung der Menschen allerdings noch gesteigert. Tagelang hatte die Regenbogenpresse gegen ihn gehetzt und auf Drängen des Kanzlers musste er seinen Rücktritt erklären. Seine politische Haupttätigkeit hatte von da ab Dein Baden-Württemberg e. V. gegolten.
„Die Zeit des Zweifelns ist vorbei. Die Nervosität wird sich bald legen. Wichtig ist nur, dass die Vorbereitungen abgeschlossen sind.“ Energiegeladen setzte sich von Carstheim an den Tisch.
Gruber nahm sich zurück und überließ Grahammer, der sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete, das Wort.
„Wir können losschlagen. Die Vereine haben ausreichend Werbezeiten gebucht und die kleineren Clubs werden am Mittwochmorgen informiert und sich der Sache anschließen. Einzig Steiger könnte ein Problem werden.“
„Überlassen Sie Steiger ruhig mir.“
„Dann bleibt es dabei, Herr von Carstheim. Nur der Wahlausgang könnte sich zum Stolperstein entwickeln.“ Das Erscheinen des Butlers hinderte Grahammer am weitersprechen.
„Herr von Carstheim, haben Sie oder die Herren noch einen Wunsch?“
„Wir benötigen Sie nicht mehr. Nehmen Sie sich den Abend frei. Wir kommen zurecht.“
„Wie der Herr Freiherr wünscht“, antwortete der Butler und mit der seiner Zunft eigenen Mischung aus Stolz, Würde und Diskretion verabschiedete er sich.
„Sie brauchen sich keine Sorgen über den Wahlausgang zu machen“, wendete von Carstheim sich wieder an seine Gäste. „Deutschland wird in unserem Sinne abstimmen.“ Von Carstheim hatte seiner Stimme eine schmeichelhafte Überzeugungskraft verliehen, gleichermaßen duldete sie keinen Widerspruch.
„Sie sollten wissen, dass sich etwas ergeben hat, was mir zu denken gibt.“
Grahammers mächtiger Brustkorb spannte sich an. „Friese hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass er den Volksentscheid unterstützen will.“
„Aber das ist doch eine gute Nachricht“, sagte Gruber in bester Laune.
„Leider gibt es einen Haken. Am frühen Abend haben zwei Herren des Bundesverfassungsschutzes Friese einen Besuch abgestattet. Deren Befragung glich einem Verhör. Sie wollten wissen, worüber er sich mit Leutner und Klein unterhalten hat und ob er Mitglied von Mein Hessen e. V. oder eines ähnlich gelagerten Zusammenschlusses sei. Friese verneinte natürlich. Der Besuch vom Verfassungsschutz erklärte daraufhin, dass es sich bei den Vereinen um deutschlandfeindliche Gruppierungen handeln könnte. Friese wimmelte sie zwar ab, doch die direkte Befragung lässt nur einen Schluss zu …“
„Der Verfassungsschutz hat herausgefunden, dass die Vereine untereinander verknüpft sind und ein gemeinsames Ziel haben“, vervollständigte von Carstheim Grahammers Satz. „Das ist aber nicht weiter tragisch. In vier Tagen kennen Deutschland und Europa sowieso unsere Ziele.“
„Ja. Kein Grund zur Aufregung. Der Verfassungsschutz hat keine Ahnung von unseren Plänen“, sagte Gruber. „Die tappen im Dunkeln.“
Berlin | Büro des Innenministers | 21 Uhr
Zwei Jahre im Amt hatten Walter Reis mit dem Stempel versehen, dass er Deutschlands nettester Innenminister aller Zeiten sei. Er konnte mit diesem vermeintlichen Makel leben. Als gelernter Ökonom hatte er dieses Amt auch nur übernommen, weil Schindling ihn darum gebeten hatte. Mittlerweile gefiel ihm der Job aber. Die Sitzungen, in denen es um Terroranschläge, Volksverhetzung und die Abwehr von antideutschen, die innere Sicherheit bedrohende Tendenzen ging, waren spannend. Viel spannender als das Zahlengeschiebe, welches er als Finanzminister gewohnt war. Dass er zu nett sei, war für ihn ohnehin ein Hohn. Seit seinem Einstieg in die Politik sagte man ihm das nach und wahrscheinlich lag dieses Vorurteil daran, dass es stimmte. Ihm war es nie darum gegangen Karriere zu machen. Er war Politiker geworden, um dafür zu sorgen, dass Deutschland ein Land mit Zukunft bliebe. Diese Einstellung hatte seine Karriere innerhalb der SPD allerdings erschwert. Ihm fehlte die Ellenbogenmentalität und nur seinem Erfolg als Nordrhein-Westfälischer Finanzminister verdankte er es, dass er doch noch einen Karrieresprung vollzog.
Innerhalb von drei Jahren hatte er den Nordrhein-Westfälischen Haushalt halbwegs saniert. Schindling war damals sein Ministerpräsident und trotz seines hohen Alters hatte der ihn in sein Schattenkabinett für die Bundesregierung berufen. Und im Laufe der Jahre war aus einer rein beruflichen Beziehung eine Freundschaft entstanden, die eine Tiefe besaß, die das Umfeld von Schindling mit Neid auf ihn erfüllte. Die Freundschaft gipfelte sogar darin, dass Schindling ihn, entgegen des Ratschlags seines Kabinetts, zum Innenminister ernannte. Er sei zu weich, war die gängige Parole auf der Regierungsbank und in den Korridoren des Innenministeriums. Ihn hatte das nicht gekümmert. Er hatte sich auf seine Arbeit konzentriert. Und als Grubers Nachfolger hatte er die Menschen davon überzeugt, dass die Regierung sich ihrer Probleme annehmen würde. Seine Menschlichkeit hatte Grubers Fehler auch halbwegs repariert. So konnte der Innenminister mit gutem Gewissen von sich sagen, dass er schon einiges erlebt hatte. Doch Fröhlich, der Chef des Verfassungsschutzes, hatte seinen Erfahrungsschatz soeben erweitert.
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