„An diesem Tag gab es lediglich ein Opfer und das war die Bundesrepublik Deutschland.“ Schreiber gab seinen Fluchtversuch auf und blieb stehen. Die Kameras fingen sein zerfurchtes faltenreiches Gesicht ein. Die tiefen Falten vermittelten einen weisen, erfahrenen Eindruck. Sein Erscheinungsbild galt seit jeher als sympathisch und selbst in dieser prekären Lage vermittelte er nicht den Eindruck, dass er verantwortlich für ein historisches Wahldebakel der CDU war.
„Bevor Sie jetzt denken, dass dies das Geschwätz eines schlechten Verlierers ist, muss ich in aller Deutlichkeit sagen, dass dies nur die Stimme eines besorgten Mannes ist. Schindling und seine Partei sind nicht in der Lage, die durch die wirtschaftliche Situation entstandenen Probleme des Landes zu lösen. Von seinen etwaigen Koalitionspartnern ganz abgesehen.“
„War Ihr Wahlkampf vielleicht zu ehrlich?“ Der Reporter drückte Schreiber das Mikro fast ins Gesicht.
„Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass Deutschland Schwierigkeiten mit der Wahrheit hat. Vielmehr befürchte ich, dass die Bürger auf die Wahlversprechungen der linksgerichteten Parteien reingefallen sind. Aber selbstverständlich übernehme ich die volle Verantwortung für die Wahlniederlage.“ Schreiber schob das Mikro aus seinem Gesicht und souverän lächelnd begab er sich in den Saal, dort war keine Presse erlaubt.
Der verhaltene Applaus, der ihn im Saal empfing, war eine Mischung aus Mitleid und guter Erziehung. Für die meisten Anwesenden war er seit einer Stunde politisch tot.
Äußerlich gab er sich deswegen zerknirscht. In seinem Inneren brannte aber ein Feuerwerk. Sie hatten es geschafft. Schindling, die Regierung und Deutschland waren in ihre Falle getappt.
4.
22. SEPTEMBER | Kanzleramt Berlin | 16 Uhr
Kanzleramtsminister Alfred Jonas hielt den Bericht des militärischen Abschirmdienstes fest umklammert. Der Bericht beschrieb bis ins kleinste Detail das, was sich gestern in Afghanistan ereignet hatte. Zwei Selbstmordattentäter hatten sich bei einer Hausdurchsuchung vor eine Bundeswehrpatrouille geworfen und sich mitsamt der Patrouille in die Luft gesprengt. Und auch auf die Gefahr, dass der Bericht Schindlings gute Stimmung trüben würde, duldete das Thema keinen Aufschub. Deutschland konnte sich einfach nicht an die in Zinksärgen heimkommenden Bundeswehrsoldaten gewöhnen. Zusätzlich litten immer mehr Soldaten an den posttraumatischen Auswirkungen ihres Einsatzes. Keiner im Land sprach mehr von einem humanitären Einsatz und die gesamte Bundesrepublik bereute die Rückkehr in das Land am Hindukusch. Von Beginn an hatte Jonas zu den Kritikern der neuerlichen Besetzung gehört. Nach dem endgültigen Abzug der ISAF-Truppen war das Land erneut im Chaos versunken. Die Taliban hatten sich unterstützt vom Islamischen Staat in Afghanistan ausgebreitet. Und der um seine Wiederwahl ringende republikanische Präsident der USA hatte die UNO aufgefordert, Afghanistan ein zweites Mal zu besetzen.
„Der Westen muss die religiösen Fanatiker aufhalten, damit die Revolution nicht auf die Atommacht Pakistan überspringen kann“, hatte der amerikanische Präsident betont. Und unter dem Druck der wirtschaftlich sterbenden Weltmacht, die unbedingt ein Einsatzgebiet für ihre gigantische Armee suchte, hatte die UNO ein neuerliches Mandat über Afghanistan verhängt. Ohne dieses Zugeständnis wäre ein Krieg gegen den Iran unvermeidlich geworden. Deren wiederbelebtes Atomprogramm und die andauernden Drohungen gegen Israel hätten ansonsten zu einem unberechenbaren Krieg in der Golfregion geführt.
Im Gegensatz zum ersten Einsatz wurden die ISAF-Soldaten diesmal aber, von der vom Westen enttäuschten afghanischen Bevölkerung, strikt abgelehnt. Die Truppen hatten von Beginn an einen schweren Stand.
„Neun tote Bundeswehrsoldaten, und das am Wahlabend, du musst endlich für ein Ende sorgen“, sagte Jonas zögerlich.
„Wenigstens habe ich jetzt einen Grund dem ein Ende zu bereiten“, entgegnete Schindling im Wissen, dass ihm das Tagesgeschäft keine Zeit zum Feiern gab. „Zunächst müssen wir aber die Koalitionsverhandlungen hinter uns bringen. Mit einer starken, links orientierten Regierung sollte es uns gelingen, das Mandat zu beenden.“
„Wir sollten Afghanistan auf Platz Eins unserer To-do-Liste setzen. Du könntest den Anschlag auch benutzen, um endlich in Bezug auf Sude aktiv zu werden. Du hast doch weiterhin vor, ihn abzuschießen?“
„Ich werde bestimmt keinen Verteidigungsminister bestätigen, der bei den April-Ausschreitungen den Vorschlag geäußert hat, Bundeswehrsoldaten gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Solche Äußerungen sind nicht tolerierbar.“ Zornesröte stieg Schindling ins Gesicht und obgleich er, bis in die frühen Morgenstunden, auf der SPD-Wahlparty im Willy-Brandt-Haus getanzt hatte, wirkte er taufrisch.
„Das heißt?“
„Die Wahl ist gewonnen. Es gibt keinen günstigeren Zeitpunkt, um ihn abzusetzen. Innerparteilich kann er mir nicht mehr gefährlich werden und rate mal, wer vor der Tür steht.“ Schindling öffnete seine Bürotür. „Herr Sude, bitte treten Sie ein.“
„Schießt du ihn gleich hier und jetzt ab“, fragte Jonas ungläubig.
„Pssst, gönn mir den Spaß.“
„Herr Bundeskanzler, wegen der neun getöteten Soldaten brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es ist nur eine Zahl, die ich den Bürgern verkaufen muss.“ Wichtigtuerisch wuchtete Sude sich in Schindlings Büro. Er war ein kleiner, fettleibiger, grobschlächtiger Mann und sein Bürstenhaarschnitt harmonierte nicht mit seinem Alter.
„Keine Angst. Ich habe Sie nicht wegen der getöteten Soldaten herzitiert.“
„Weswegen dann?“ Sudes Körperhaltung lockerte sich. Er hatte befürchtet, dass Schindling ihn wegen des Anschlags sprechen wollte und ihn zur Rechenschaft ziehen würde.
„Ich wollte Sie nur umgehend darüber informieren, dass Sie in der neuen Regierung keine Berücksichtigung finden werden. Weder als Verteidigungsminister noch in einem anderen Ministerium.“
„Wieso das?“ Sude wurde Blass. „Sie hatten mir doch versprochen, dass ich bei einem Wahlsieg Finanzminister werde.“
„Wir haben es uns eben anders überlegt.“ Im Gegensatz zu Schindling verbarg Jonas seine Genugtuung nicht. Ein breites Lächeln schmückte seinen Mund. Sudes radikale Einstellung und die hinter verschlossenen Türen getätigten hochtrabenden Reden, waren ihm stets ein Gräuel gewesen.
„Wir werden die Umbesetzung des Verteidigungsministeriums aber erst in drei Wochen bekanntgeben. In einer so schwierigen weltpolitischen Lage möchte ich die Soldaten nicht zusätzlich verunsichern.“ Ausdruckslos haftete Schindlings Blick auf Sude und nur die Lachfalten seiner Augen signalisierten, dass er eine diebische Freude empfand.
„Das ist eine Frechheit“, polterte Sude und die Blässe in seinem Gesicht wich einer starken Röte. „Sie sind einfach undankbar nach allem, was ich für Sie getan habe.“
„Beruhigen Sie sich. Sie bekommen sonst noch einen Herzinfarkt“, sagte Jonas.
„Sie können mich mal. So lasse ich nicht mit mir umspringen, das werden Sie noch bereuen“, schimpfte Sude und stampfte hinaus.
„Das ging schnell. Er zieht ab, ohne mir eine Szene zu machen.“ Bestärkt durch Sudes schnellen Abgang machte auch Schindling kein Geheimnis mehr aus seiner Genugtuung.
„Das wird noch kommen. In einer dunklen Gasse hätte er sich auf dich geworfen.“
„Ihm ist alles zuzutrauen. Bei seiner Verabschiedung stellst du dich am besten hinter ihn und mit vorgehaltener Hand flüsterst du ihm zu, dass er seine Pension riskiert, wenn er den Kanzler angreift.“
„Als ob ich nicht genug damit zu tun habe, das Kanzleramt von der CDU zu säubern.“ Jonas tat so, als würde er sich die Stirn trocken wischen.
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