„Später zeige ich Ihnen alles“, versprach er. „Jetzt wird erst mal gefrühstückt. Sie müssen schon halb verhungert sein.“
Behutsam nahm er ihren Arm und führte sie die Steintreppe hinauf ins Haus. Bevor Helen sich noch zu der stilvollen Einrichtung äußern konnte, standen sie bereits auf der Terrasse.
Hier erfreuten üppig blühende Blumen, Olivenbäumchen, Lorbeer und Ginster in Terrakottakübeln das Auge und vermittelten mediterranes Flair. Die Aussicht auf die Pferdekoppeln, Weizenfelder und die Hügelkette mit den Burgen in der Ferne übertraf in ihrer atemberaubenden Farbenpracht jedoch alles zuvor Gesehene.
Erwartungsvoll schaute Vincent seinen Gast an.
„Habe ich Ihnen zu viel versprochen?“
„Dieser Ausblick ist überwältigend“, erwiderte sie fasziniert. „Dieses Licht – und die leuchtenden Farben: einfach paradiesisch. Hier würde ich es wahrscheinlich problemlos für den Rest meines Lebens aushalten.“
„Dann bleiben Sie“, nahm er die Gelegenheit wahr. „Nach dem Besichtigungsmarathon in Florenz könnten Sie hier wunderbar ausspannen.“
„Ein verlockender Gedanke.“ Fragend wandte sie sich ihm zu. „Glauben Sie, dass man hier ein Zimmer mieten kann?“
„Das wird nicht ganz einfach. Der Besitzer ist ein komischer alter Kauz. Ein Einsiedler, der Ihnen allenfalls seine langweilige Gesellschaft anbieten könnte. Das ist kaum zumutbar.“
Sie musterte ihn mit einem forschenden Blick. Das volle, schneeweiße, immer etwas zerzaust wirkende Haar, das wettergegerbte gebräunte Gesicht, das einen häufigen Aufenthalt im Freien verriet, und die dunkelbraunen Augen, in denen es vergnügt funkelte. Obwohl Vincent ihr gegenüber kürzlich erwähnt hatte, er bewohne ein kleines Bauernhaus, ahnte sie plötzlich, wem dieses herrliche Anwesen gehörte.
„Sagen Sie dem alten Kauz, dass ich für derartige Zumutungen sehr empfänglich bin.“
Vincent fiel ein Stein vom Herzen. Seine Befürchtung, diese kluge Frau durch seine Überrumpelungsaktion womöglich zu verärgern, erwies sich als unbegründet. Sie reagierte sogar mit Humor auf seine kleine List.
„Ich werde es ihm ausrichten“, sagte er mit feinem Lächeln und führte sie zu dem reich gedeckten Tisch unter der aufgespannten Markise. Zuvorkommend rückte er seinem Gast einen Stuhl zurecht, bevor er selbst sich setzte und den Kaffee aus einer Warmhaltekanne einschenkte.
Während sie sich dem Frühstück widmeten, sprachen sie über eine Ausstellung, die Helen in Florenz besucht hatte.
„Fast fünfundvierzig Jahre ist es jetzt her, seit ich das letzte Mal in Florenz war“, sagte Helen. „Vieles hat sich überhaupt nicht verändert. Ich bin schon gespannt darauf, ob auch in Siena die Zeit stehen geblieben ist. Damals hatte diese Stadt einen zauberhaft urbanen Charakter durch die hohen Backsteinpaläste und den dazu verhältnismäßig engen Gassen, in denen kaum ein Sonnenstrahl bis aufs Pflaster fiel.“
„Werden Sie in Siena von jemandem erwartet?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie haben Freunde in der Toskana erwähnt“, tastete er sich vorsichtig an die Frage heran, die ihn am meisten beschäftigte. „Vielleicht möchten Sie sich dort sogar mit jemandem treffen, der Ihnen besonders nahe steht? Zwar haben Sie kürzlich gesagt, dass Sie seit dem Tod Ihres Gatten allein leben, aber ich kann mir gut vorstellen, dass eine so attraktive Frau hartnäckig umworben wird.“
Sie antwortete nicht sofort, da sie sich fragte, woher das anscheinend immer noch vorhandene Interesse dieses Mannes an ihr rührte. Sie war längst nicht mehr so jung und naiv, zu glauben, dass sie einem Mann noch den Kopf verdrehen konnte. Mit Mitte sechzig machte sie sich keine Illusionen mehr. Zwar traf seine Annahme zu, es gäbe einige Verehrer in ihrem Leben, aber keiner von ihnen weckte etwas anderes als freundschaftliche Gefühle in ihr. In Vincents Gesellschaft hatte sie sich vom ersten Moment an auf seltsame Weise wohl gefühlt. Seit sie Witwe war, hatte sie eine derartige Anziehung nicht mehr verspürt.
Anfang der letzten Woche hatten sie zufällig in einem vollbesetzten Café an einem Tisch gesessen und waren ins Gespräch gekommen. Sie hatte ihn nach dem Weg zu den Uffizien gefragt, und er hatte sie zuvorkommend dorthin geführt. Wie selbstverständlich hatten sie sich die Gemälde dann zusammen angeschaut, ihre Eindrücke ausgetauscht und darüber diskutiert. Später hatte er sie zum Hotel zurückbegleitet und zum Abendessen eingeladen. Seitdem hatte er sie mehrmals auf ihren Exkursionen durch die Stadt begleitet. Als er sich dann nicht mehr gemeldet hatte, war sie entschlossen gewesen abzureisen, weil sie geglaubt hatte, sein Interesse an ihr sei erloschen. Überrascht hatte sie festgestellt, dass sie nicht nur enttäuscht war, sondern immer noch zu Empfindungen fähig, die sie längst nicht mehr für möglich gehalten hätte.
„Ihrem Schweigen entnehme ich, dass meine Vermutung zutrifft“, sagte Vincent in ihre Gedanken hinein. Er hätte wissen müssen, wie seine Geschlechtsgenossen auf eine so faszinierende Frau reagierten. „Es gibt in Ihrem Leben ...“
„Nein“, unterbrach sie ihn. „Bei mir ist das wie bei einem Orkan: Drumherum viel Wirbel, aber im Zentrum ist es still.“
Es gelang ihm nicht, seine Erleichterung zu verbergen.
„Demnach sind Sie völlig ungebunden? Auch zeitlich?“ Und als sie lächelnd nickte: „Bestünde die Chance, dass sich Ihr Aufenthalt hier auf Piccolo Mondo nicht nur auf ein gemeinsames Frühstück beschränkt? Ich möchte Sie einladen, länger zu bleiben, Helen. Viel länger.“
„Das klingt sehr verlockend, aber wir kennen uns doch kaum.“
„Gerade das möchte ich ändern. Wenn sich zwei Menschen begegnen, die viele gemeinsame Interessen verbinden, sollten sie nicht einfach auseinandergehen und die Gelegenheit verpassen, dass sich zwischen ihnen etwas Wundervolles entwickeln könnte.“ Seine Augen nahmen einen sehr ernsten Ausdruck an. „Ich beabsichtige nicht, Sie zu irgendetwas zu überreden oder zu drängen. Meine Einladung ist für Sie völlig unverbindlich. Es wäre einfach schön, könnten Sie sich dazu entschließen, uns ein wenig Zeit zu schenken.“
Um nicht gleich antworten zu müssen, griff sie nach ihrer Kaffeetasse und setzte sie an die Lippen. Sie täte nichts lieber, als zu bleiben, um diesen interessanten Mann näher kennenzulernen. Aber wohin würde das führen? Vincent war bestimmt nicht auf der Suche nach etwas Dauerhaftem. Auch sie hatte seit dem Tod ihres Mannes keinen Gedanken daran verschwendet, sich noch einmal zu binden. Wo lag also das Problem? Es würde höchstens auf eine Urlaubsaffäre hinauslaufen - wenn überhaupt. Vielleicht dachte Vincent aber einfach nur an Freundschaft? Jemand, der so zurückgezogen fernab der Heimat lebte, sehnte sich wahrscheinlich hin und wieder nach Gesellschaft, nach einem Menschen, mit dem er sich austauschen konnte.
„Ein paar Tage Reiseunterbrechung würden mir sicher guttun“, sagte sie schließlich. „Ich nehme Ihre Einladung unter einer Bedingung an, Vincent: Sollte sich der alte Kauz schon bald von meiner Anwesenheit überfordert fühlen, darf er nicht zögern, mich daran zu erinnern, dass meine Freunde einen Besuch von mir erwarten.“
„Abgemacht“, stimmte er voller Freude zu, obwohl er schon jetzt plante, alles dafür zu tun, um sie für immer zu halten.
Am Donnerstag kam Antonia schon am frühen Nachmittag nach Hause. Ihrer beider Gepäck war von Leo schon im silberfarbenen Mercedes seines Freundes verstaut worden, so dass sie sich nur noch rasch umkleidete, bevor sie mit Quincy in ihren Kurzurlaub starteten.
„Schöner Wagen“, sagte sie und streckte die langen Beine aus. „Und so bequem.“
„Mein Chef legt Wert auf einen gewissen Komfort“, erwiderte Leo mit einem kurzen Seitenblick auf sie. „Davon profitiere ich, seit ich für ihn arbeite.“
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