Plötzlich beugte Ellen Alvson sich vor: „Können Sie mir verraten, wie spät es ist?“ Ulrich zog die Uhr aus der Westentasche und nannte die Zeit. „Oh,“ Ellen stellte mit einer heftigen Bewegung ihre Tasse zurück, „dann wird es höchste Zeit für mich. Seien Sie mir nicht böse, Herr Platikow, aber ich muß mich verabschieden.“ Sie erhob sich, Ulrich beeilte sich, ihre Mäntel zu holen und legte einen Schein auf den Tisch, der den zu fordernden Betrag weit übertraf, um seinem Gast seine Begleitung anzubieten.
Aber Elena lehnte ab: „Ich bin es gewöhnt, alleine zu gehen“ – was übrigens nur sehr bedingt der Wahrheit entsprach – „und möchte nicht gerne in Herrenbegleitung gesehen werden. Gerade in diesem Beruf gerät man leicht in ein schlechtes Licht. Das müssen Sie verstehen.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen, die Ulrich wieder mit leichter Verbeugung an die Lippen führte, ohne sie jedoch damit zu berühren.
„Es war ganz anders, als ich erwartet hatte,“ gestand sie. „Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.“ „Vielleicht ergibt sich ja eine Möglichkeit, es irgendwann einmal fortzusetzen,“ antwortete er. „Vielleicht, irgendwann,“ wiederholte sie leichthin, ohne dass damit eine Andeutung erkennbar wurde. „Leben Sie wohl – und denken Sie an Ihr Versprechen, was alle meine Geheimnisse betrifft.“ Sie lächelte ihm noch einmal zu und wandte sich dann zum Ausgang. Ulrich blieb einen Augenblick zurück, um ihr zu zeigen, dass er ihre Bitte respektieren würde. Als er auf die Straße trat, war Elena bereits irgendwo zwischen den flanierenden Passanten verschwunden.
Ein halbes Jahr später, an einem Samstag Morgen im Mai 1927 geriet Ulrich von Pendragon beim eher lustlosen Blättern durch etliche Berliner Tageszeitungen an eine Anzeige unter den Nachrichten aus der Gesellschaft, und sie berührte ihn mehr, als er sich eingestehen mochte: Ein Herr Gustav Alvson beehrte sich bekanntzugeben, dass seine Tochter Ellen Magdalena sich mit Herrn Dr. med. M. Kornwald verlobt habe.
Als Ulrich nach einiger Zeit die Anzeige zum zweiten Male las, fielen ihm zwei Besonderheiten auf, die er in seiner Überraschung zunächst nicht bemerkt hatte: Es gab weder eine Adresse noch einen Hinweis auf eine Besuchszeit, einen Empfang, wie er in diesen Kreisen doch sonst üblich war. Und ebenso erstaunlich war, dass der Vater den Vornamen des zukünftigen Schwiegersohnes schamhaft verschwiegen hatte. Nun ja, den vielen Patienten des Doktors war er geläufig, auch versteckte dieser seine jüdische Abstammung ja keineswegs, doch Gustav Alvson vermied jeden Hinweis darauf. Das gab Ulrich zu denken, und irgendwie fühlte er sich mitschuldig.
Denn auch wenn er ja den jüdischen Arzt vor Monaten selbst konsultiert hatte und nicht nur seine Heilkunst loben musste, sondern auch seine persönliche Ausstrahlung, sein freundliches und höfliches, den Patienten zugewandtes Wesen zu schätzen gelernt hatte – seine Artikel im „Völkischen Beobachter“ unter dem Namen Sigurd Nansen pflegten mit jüdischen Mitbürgern nicht gerade freundlich umzugehen, auch wenn er sich jener primitiven Hetze der Rassetheoretiker – noch – enthalten hatte. Schließlich zählte diese Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei eher zu den Splittergruppen im Land.
Aber dass der Faschismus in Zukunft auch im Reich eine politische Größe darstellen könnte, das hatten die Erfolge Mussolinis in Italien ihm deutlich vor Augen geführt. Es konnte also nichts schaden, wenn er auch in dieser Richtung – natürlich unter einem Pseudonym – journalistisch tätig war. Und trotz aller Erfolge des Buches von Ulrich von Pendragon, er konnte von der alten Versuchung nicht lassen, die unterschiedlichsten Presseorgane mit unterschiedlichsten Artikeln zu bedienen.
Eine Weile überlegte er, ob er nicht doch mit einem Billett zur Verlobung gratulieren sollte, schließlich kannte er ja beide Brautleute, doch dann verwarf er es wieder. Der einmalige Besuch beim Arzt ebenso wie das einmalige Gespräch mit Elena schienen diese persönliche Geste nicht zu rechtfertigen. Und irgendetwas hielt ihn auch sonst davon ab, Elena zu dieser Verbindung, überhaupt zu einer Verbindung, ehrlich Glück zu wünschen.
Artur hat den Wagen hinter der nächsten Ecke geparkt. Er möchte nicht, dass die Nachbarn das DDR-Schild entdecken. Noch weiß er nicht, was ihn erwartet, wenn er die väterliche Wohnung betritt. Es hat einige Zeit gedauert, bis er sich in diesem Teil Berlins zurechtgefunden hat, doch nun wird er aussteigen müssen, wird die wenigen Schritte zurückgehen und eine Tür aufsperren müssen. Und auf dem Türschild wird er den Namen von Pendragon finden, den vertrauten, verhaßten Namen, den er schon so lange abgelegt hat und den er doch nie ganz verleugnen kann.
Er greift in die Jackentasche und holt eine Zigarettenpackung hervor, fingert eine dieser weißen Stangen heraus und entzündet sie. Diese Minuten wird er noch im Wagen sitzen bleiben können. Warum habe ich diese Ängste, warum zögere ich alles so hinaus, denkt er. Der Vater ist doch tot, ich werde ihm nicht mehr begegnen. Und ich werde auch keinem anderen Menschen dort begegnen – das Haus ist verschlossen, der Notar hat mir den Schlüssel übergeben.
„ Es ist nichts verändert worden, seitdem die Putzfrau Ihren Vater tot aufgefunden hat,“ so hat er eben gesagt. „Außer dem Notarzt und den Rettungssanitätern hat niemand das Haus betreten. Auch ich nicht. Ihr Vater hat mir zwar Vollmacht über den Tod hinaus erteilt, aber Sie sind der Erbe, und ohne Ihre Zustimmung fühlte ich mich nicht berechtigt, in die Wohnung zu gehen. Das Testament liegt vor, und ich denke, er hat es seitdem nicht geändert oder widerrufen, ohne mich zu informieren. Einzig die Vorbereitung der Trauerfeier habe ich nach seinen Wünschen in Angriff genommen, da ich nicht wusste, wie schnell Sie herüberkommen würden. Sie finden das alles in diesem Schriftsatz aufgelistet, und wenn Sie es wünschen, werde ich auch Änderungen veranlassen. Aber das kann noch ein paar Stunden warten, fahren Sie nur erst einmal nach Tempelhof.“
Ja, und nun ist er in Tempelhof, sitzt im Wagen und raucht. Und wartet, bis die Zigarette verglüht ist, bis er keinen Grund mehr hat, der ihn hindern könnte auszusteigen, durch den schmalen Vorgarten zu gehen, die drei Stufen hinaufzusteigen und den Schlüssel in das Schloß zu stecken. Und dann wird er ihm doch begegnen – überall wird er sein, jedes Möbelstück, jedes Bild wird von ihm erzählen, und jener Sessel, in dem er gefunden wurde, wird irgendwo dastehen, vorwurfsvoll, anklagend.
Er war doch dein Vater, wird er sagen, du hättest den ersten Schritt tun müssen, wird er sagen, er hat so lange auf dich gewartet, aber du bist nie gekommen. Ja, auch das wird er sagen. Und ich werde ihm antworten müssen: Ich konnte es nicht, verstehst du? Ich konnte es einfach nicht.
Artur Penn gibt sich einen Ruck, drückt die Zigarette aus, öffnet die Tür, um sie in den Rinnstein zu werfen, und nun kann er nicht mehr zurück. Die Tür ist offen, die Straße wartet, das Haus wartet – der Vater wartet. Er steigt aus, verschließt sorgfältig den Wagen, sucht den Hausschlüssel aus der Jackentasche heraus und geht um die Ecke, Schritt für Schritt bis zum Haus Nummer 18a.
Er stößt die Tür auf und tritt in einen düsteren Flur. Ein Mantel hängt an einer Garderobe, ein breitkrempiger Hut liegt oben auf der Ablage, Winterstiefel stehen seitlich an der Wand. Artur mustert die Türen, die zu beiden Seiten abgehen, dann wendet er sich zur Rechten. Dem äußeren Bild des Hauses nach würde er hier das Wohnzimmer finden – jenen Raum, in dem der Vater gestorben ist. Dort hinein wird er als erstes gehen, er muß die Gespenster vertreiben, die ihn sonst verfolgen würden.
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