Hätte er allerdings diesen Vorsatz unmittelbar im Anschluß an die Vorstellung in die Tat umgesetzt, wäre er unweigerlich zum dritten Mal Dr. Moses Kornwald begegnet, denn er Mediziner wartete geduldig am Künstlerausgang des Theaters, um die junge Elena dort abzuholen und zu begleiten, und das offensichtlich nicht zum ersten Mal.
Ulrich aber beschloß, zunächst seine Rezension zu schreiben und deren Veröffentlichung abzuwarten. Er versprach sich davon eine positive Empfehlung für die geplante Bitte um ein Interview. Sein Artikel also lobte die Künstlerin, ohne in erkennbare Lobhudelei zu verfallen. Er wandte viel Formulierungskunst auf, um jenen Bericht sachlich und objektiv erscheinen zu lassen, und das nahm auch Elena zur Kenntnis, denn solche Berichterstattung war eher selten.
Sodann suchte Ulrich zunächst einmal Näheres über die Künstlerin zu erfahren. Weder kannte er ihren wirklichen Namen noch ihr wirkliches Aussehen, denn er wusste, dass Schminke und oft sogar wechselnde Perücken die Persönlichkeit einer Darstellerin sehr verfälschen können, und er wollte sich keinesfalls unvorbereitet enttäuschen lassen. So erfuhr er durch die Redaktion, dass sie mit bürgerlichem Namen Ellen Alvson hieß und neben ihrem deutschen auch einen schwedischen Paß besaß.
Und ein Bild, das ihm weitergereicht wurde, zeigte – wie er es fast erwartet hatte – eine mädchenhaft schlanke Person mit einem blonden Bubikopf. Dieser knabenhafte Haarschnitt war ja nicht nur die große Mode dieser Jahre, er erwies sich auch als besonders praktisch, wenn es galt, während der Vorstellung mehrfach Perücken zu wechseln. Übrigens war auch ihr Gesicht eher knabenhaft, die erotisch-verführerische Ausstrahlung wurde erst durch Maske und Kostüm hervorgerufen. Doch das irritierte Ulrich nicht sonderlich, er war eher dankbar, dass sich hinter alledem eine offensichtlich trotz ihrer Jugend ernsthafte und strebsame Künstlerin verbarg. Und insofern war seine Rezension auch berechtigt, wie er nachträglich feststellte.
Auch Moses Kornwald hatte diese Rezension mit dankbarer Zustimmung gelesen und in seinen Ordner aufgenommen, den er seit einiger Zeit für alle Berichte angelegt hatte, die über die Auftritte Elenas veröffentlicht worden waren. Was er natürlich nicht wissen konnte: Dass sich hinter dem ihm unbekannten Verfasser sein neuer Patient verbarg, Ulrich Baron von Pendragon.
Fräulein Alvson, mit Künstlernamen Elena, hatte einem Interview mit diesem Herrn Wilhelm Platikow von der Vossischen Zeitung zugestimmt, auch mit dem Ort der Begegnung, einem Wiener Kaffeehaus in der Nähe des Alexanderplatzes, war sie einverstanden. Ulrich begab sich eine gute Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin in das Café, suchte einen Tisch in einer Ecke abseits von Eingang und Theke aus und zog dann die neueste Ausgabe der „Vossischen“ heraus, um seine Seriosität zu dokumentieren.
Elena erschien mit nur sehr geringer Verspätung, Ulrich erhob sich, winkte mit der Zeitung und begrüßte sie mit einem angedeuteten Handkuß. „Ich freue mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, gnädiges Fräulein,“ eröffnete er das Gespräch, nachdem er ihren Mantel zur Garderobe gebracht hatte, um gleich darauf der Serviererin zu winken und seinen Gast nach den Wünschen zu fragen. Elena wählte eine Wiener Mélange und bestellte auf Drängen ihres Gegenübers auch ein Gebäck. Dann wiederholte Ulrich noch einmal einige Beobachtungen, die er schon in seinem Artikel erwähnt hatte. Sie nahm das Lob mit freundlichem Lächeln und ohne jeden Kommentar zur Kenntnis, dann sagte sie: „Mein lieber Herr, Sie haben mich sicherlich nicht hierhergebeten, um mir Komplimente zu machen. Ich warte auf Ihre Fragen.“ Dabei blickte sie ihm geradewegs in die Augen.
„Sind Sie unempfänglich für Schmeicheleien?“ fragte Ulrich zurück. „Ich denke schon,“ antwortete sie mit leicht ironischem Unterton. „War das die erste Frage? Dann bitte die nächste!“ Ulrich musste lachen: „Ich wollte Sie interviewen, aber ich wollte Sie nicht verhören. Ich dachte, wir könnten einfach ein wenig plaudern, und Sie erzählen mir dabei etwas von sich, etwas, das Sie auch bereit sind auszuplaudern. Es ist nicht meine Art, mit Fangfragen Geheimnisse zu entlocken, um sie dann in die Öffentlichkeit zu zerren. Wissen Sie, ich bin kein professioneller Pressemann, der Sensationen oder Klatsch liefern muß. Ich arbeitete gelegentlich für die Vossische, wenn die Aufgabe interessant ist, als Steckenpferd sozusagen.“
Er machte eine kleine Pause, während Elena ihn noch immer aufmerksam anschaute; er erwiderte ihren Blick und spielte dabei mit seinem Kaffeelöffel. „Jetzt habe ich von mir erzählt, beispielgebend sozusagen. Wie wäre es, wenn Sie sich nun revanchieren?“ „Beispielgebend,“ wiederholte sie, „was für ein gewählter Ausdruck! Da kann ich aber nicht mithalten, mein Herr. So gut beherrsche ich das Deutsche leider nicht.“
„Darf ich daraus schließen, dass Ihr Name etwas von Ihrer Herkunft verrät? Ich wage einen Versuch: Norwegen?“ „Falsch geraten. Schweden. Aber was heißt schon Herkunft? Ich bin weitgehend hier in Deutschland aufgewachsen, und mein Schwedisch ist wahrscheinlich noch wesentlich schlechter als mein Deutsch, meine eigentliche Muttersprache. Aber es stimmt: Ich bin im Besitz von zwei Pässen, und das verdanke ich meinen Eltern: Mein Vater hat längere Zeit hier an der schwedischen Botschaft gearbeitet, und hier hat er auch meine Mutter kennengelernt – übrigens ebenfalls in einem Kaffeehaus. Sie war dort Serviererin. Und weil ich etwas voreilig war, hat er sie geheiratet. Das war bei seiner Position nicht ganz einfach, doch er hat sich durchgesetzt, auch gegenüber der Familie. Ich glaube, meine Eltern sind damals sehr glücklich gewesen.“
Weil Elena plötzlich verstummte und ihre Serviette zu falten begann, fragte Ulrich sehr vorsichtig: „Ist etwas – geschehen?“ „Mutter starb im zweiten Kriegsjahr. Da war ich gerade zehn geworden. Der Vater schickte mich daraufhin zu seinen Verwandten nach Schweden, aber mit vierzehn bin ich einfach zurückgekommen. Diese steifen, langweiligen Menschen waren mir zuwider, ihre strenge Erziehung machte mich nur umso widerspenstiger. Sie glaubten, meine Mutter wäre nicht standesgemäß gewesen, sie hätte sich die Heirat erschlichen – mit mir.“
Plötzlich lachte sie leise: „Wenn sie wüssten, Ellen Alvson arbeitet hier als Revuegirl, sie würden mich steinigen!“ „Und Ihr Vater?“ „Der ist wohl auch nicht besonders glücklich darüber, aber er hat es mir nicht verboten. Ursprünglich wollte ich ja auch Sängerin werden, Kammersängerin meinetwegen, aber ich musste mich beim Singen einfach bewegen, tanzen, eine Rolle spielen, da bin ich eben bei der Revue gelandet. Und außerdem ist mein Vater inzwischen in Rom und ärgert sich mit Mussolini herum. Nur gut, dass ich einen – Mäzen habe.“
Ulrich horchte auf, doch ehe er fragen konnte, fuhr sie fort: „Bitte, das bleibt ein Geheimnis! Und Sie wollten doch keine Geheimnisse ausplaudern, nicht wahr? Also streichen Sie diesen Satz aus Ihrem Gedächtnis. Es gibt einen Menschen, der für mich sorgt – der sich um mich sorgt. Übrigens in aller Ehrbarkeit – so nennt man das doch? Aber gerade darum geht das niemand etwas an, weil doch alle nur etwas Falsches denken würden.“
Ulrich legte beide Hände auf den Tisch, die Handflächen nach oben. „Fräulein Alvson, Sie bestimmen selbst, was ich schreibe und was nicht. Wechseln wir also das Thema. Erzählen Sie von Ihrer täglichen Arbeit. Wie entstehen Ihre Nummern? Haben Sie Einfluß auf die Gestaltung der Figuren, die Sie spielen? Lässt der Regisseur Ihnen freie Hand?“
Und während sich das Gespräch nun um die Revuen drehte, in denen Elena bislang aufgetreten war, setzte sich dieser eine Gedanke in Ulrichs Gehirn fest: Sie ist nicht frei. Und er musste gestehen, dass er das aufrichtig bedauerte. Es war nicht mehr das Revuegirl, nicht mehr die aufreizende Darstellerin auf der Bühne, es war dieses selbstbewusste und doch so zerbrechliche junge Mädchen, das seine Gefühle erregte. Aber er verbot sich, etwas davon zu zeigen. Jedenfalls jetzt.
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