1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Wir gingen die Treppe hinauf, an der ersten Etage vorbei, hoch zu Mamas kleiner Mansardenwohnung im Dach. Nach ihrem Tod hatten Traudel und Karl-Heinz die Wohnung zuerst vermietet. Nachdem jedoch vor Kurzem der Mieter aus der Mansardenwohnung ausgezogen war, zeigte Regina Interesse daran.
„Es wird höchste Zeit, dass ich mich selbständig mache. Andere haben das mit Einundzwanzig längst getan“, hatte sie gesagt.
Traudel fand es zwar unvernünftig, da dann drei ehemalige Kinderzimmer bei ihnen im Erdgeschoss leer standen, doch verstehen konnte sie es auch.
Als wir die steile Treppe nach oben gingen, musste ich daran denken, wie stolz mich Mama hier zum ersten Mal hinaufgeführt hatte, nachdem sie aus Berlin hergezogen war, um für Traudel die Kinder großzuziehen. Und eben diese Treppe war sie noch im hohen Alter tagtäglich auf und ab gelaufen, obgleich ihr schon sehr die Beine schmerzten. Zu meiner Überraschung fand ich im Wohnzimmer noch den alten Wohnzimmerschrank vor, den sich Mama und Papa einmal angeschafften, als sie geheiratet hatten. Dass Regina den behielt.
„Davon trennt sie sich nicht“, erklärte Traudel. „Irgendein altes Stück zu haben, scheint heute bei den jungen Leuten beliebt zu sein. Wenn ich so sehe, was da vom Flohmarkt manchmal weggetragen wird. Bei uns wäre das in den Müll geworfen worden.“
Doch dies war das einzige alte Möbelstück im Wohnzimmer. Ansonsten gab es Stühle mit bizarren Lehnen, jede Menge Polsterkissen auf dem Fußboden und in der Mitte einen ovalen Tisch. Auf dem kleinen Balkon im Dach stand eine Liege und in den Blumenkästen blühten Geranien wie bei Mama. Im Schlafzimmer gab es neben einem Garderobenschrank und einem Polsterbett Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten. Regina war eine Leseratte. In der kleinen Küche fand ich dann wieder Spuren von Mama. Da hing noch die alte Kaffeemühle an der Wand. Auf dem Tisch stand ihr altes Brotkörbchen und auf einem Paneel standen in Reih und Glied, die alten Metzen für Zucker, Mehl, Hülsenfrüchte, Reis und mehr. Auch Mama hatte die schon von unserer Großmutter geerbt.
„Dass Regina dafür Sinn hat“, wunderte ich mich.
„So kontrastreich wie sich die jungen Leute heute einrichten, so kontrastreich kommen sie mir manchmal auch vor“, erklärte Traudel, ging noch einmal ins Wohnzimmer und wies auf den kleinen Schreibtisch mit einem Computer. „Eben hat sie einen Kursus für Buchhaltung beendet. Und nun sieh dir das an! Hier liegen schon wieder andere Lehrbücher herum. Sie hofft wohl, bald ihren Kfz-Meister machen zu können.“
Julchen schnüffelte in allen Ecken, es roch nach Regina, doch wo war sie? Als wir wieder hinunter zur Terrasse gingen, nahm ich Julchen lieber auf den Arm und trug sie wegen ihrer kurzen Beine die steile Treppe hinab.
„So arbeitet Regina also mit Fleiß daran, einmal alles zu übernehmen, was ihr hier aufgebaut habt“, sagte ich, als wir uns wieder auf die Terrasse gesetzt hatten.
„Ja. Dank sei der Emanzipation! Ein Mädchen als Kfz-Mechaniker, das wäre früher ausgeschlossen gewesen. Denke nur mal daran, was du noch geworden bist, eine Stenotypistin, ein typischer Frauenberuf. Über ein Büro konntest du nie hinauskommen. Und Regina wird einmal nicht nur eine Werkstatt leiten.“
„Und doch bleibt sie eine Frau, wird heiraten und Kinder bekommen …“
,,Ja, sicher!“
„Meinst du nicht, es könnte dann Probleme geben?“
„Ach, was! Das findet sich. Ist doch bei uns auch gegangen“, reagierte Traudel abwehrend.
„Mit Hilfe von Mama, die sich um die Kinder gekümmert hat“, erinnerte ich sie. „Das half euch, es zu schaffen. Susanne dagegen hat es damit ohne Mama viel schwerer.“
„Das stimmt zwar, trotzdem hoffe ich, dass Susanne nicht alles aufgibt und mit Robert herkommt. Auch wenn Robert als Oberarzt vielleicht gut verdienen würde, besser ist es, wenn sie von ihm unabhängig bleibt.“
„Ist der Preis nicht ein bisschen hoch, den sie bis jetzt bereits für ihre Unabhängigkeit bezahlt hat, so gehetzt wie sie immer ist? Und haben die Kinder nicht mitbezahlt, wenn sie herumgeschoben wurden, weil Susanne und Robert zu oft nicht wussten, wo sie die Kinder lassen sollten? Sie waren ihnen ja bei ihren beruflichen Anforderungen fast im Weg.“
„Susanne hat immer einen Ausweg gefunden ...“
„Weil Margot einspringen konnte. Sie hat Zeit für alle drei gehabt“, unterbrach ich sie, obgleich ich sah, wie sich eine ungeduldige Falte auf Traudels Stirn bildete.
„Es kam nicht nur auf Margot an!“, widersprach sie mir sofort. „Schließlich gibt es Kindergärten. Außerdem werden Kinder frühzeitig viel selbständiger, wenn sie sich unter anderen Kindern zu behaupten lernen.“
„Ein Gärtner stützt einen jungen Baum, bis er kräftig genug ist, gerade und allein ...“
„Oder er verbiegt ihn dabei! Was soll der Vergleich?“, fuhr sie mir ins Wort.
„Ich will damit sagen, ob Kind oder junger Baum, sie sollten gestützt werden, bis sie stark genug sind, allein zu stehen und sich nicht mehr jedem Wind beugen zu müssen“, fuhr ich unbeirrt fort.
„Und diese Stütze kann nur die Mutter sein? Das ist Unfug! Nur durch Erfahrung wird ein Mensch klug. Was soll falsch daran sein, wenn ein Kind frühzeitig lernt, wie es sich in einer Gemeinschaft, z. B. Kindergarten, durchsetzen kann?“
„Und was ist mit denen, die dies nicht schaffen? Wie hilflos und verlassen müssen sie sich ohne die Mutter fühlen.“
„Wer zuviel Schutz erfährt, wird unselbständig“, tat Traudel es ab.
„Und deine drei? Sind sie nicht besonders beschützt von ihrer Großmutter aufgewachsen? Und sie behütete Kinder noch so, wie sie es von der Generation vor ihr gelernt hatte, so, wie auch wir in ihrem Schutz groß geworden sind.“
„Na, eben, war das nicht manchmal überbehütet?“
„Wenn du dieser Meinung bist, so wundere ich mich, dass deine Kinder nicht unselbständig geworden sind, obgleich Omi sie auf ihre Art erzogen hat.“
„Ich war doch nicht aus der Welt. Vergiss nicht meinen Einfluss dabei“, lehnte sich Traudel auf.
„Wie viel Zeit blieb dir bei deiner Arbeit für deine Kinder?“
Irritiert sah sie mich an. „Genug, um nicht den Überblick zu verlieren.“
„… und Susanne, hat sie nicht noch weniger Zeit zur Verfügung für ihre Kinder als du? Genügen wirklich ein paar Stunden am Abend? Wenn eine Mutter, wie Susanne, nach Hause kommt, braucht sie auch etwas Zeit für sich, einen Moment der Besinnung und Entspannung. Doch es warten nicht nur die Kinder auf die berufstätige Frau, sondern noch viel Arbeit, die gemacht werden muss.“
„Dem kann man abhelfen. Susanne hatte sich schon bald eine Haushaltshilfe besorgt.“
„Eine Hilfe, Traudel. Das ist niemals so wie bei Mama, die dir selbständig den Haushalt führte. Da bleibt noch genug, was Susanne selbst machen muss. Und wie sieht ihr Leben mit Robert aus? Ein richtiges gemeinsames Leben ist das nicht, wenn sie sich manchmal tagelang nicht sehen, nur über Zettel an einer Pinnwand und übers Telefon miteinander verkehren können, weil sein Dienst im Krankenhaus es so mit sich bringt.“
„Ihre Berufe sind einfach zu verschieden, um sie unter einen Hut zu bringen. Man kann aber nicht alles haben. Solange es für Frauen keine bessere Lösung zwischen Berufsleben und Familie gibt, so lange müssen wir uns damit abfinden, auch Susanne“, sagte Traudel mit einer kurzen Handbewegung, die jeden weiteren Einwand abweisen wollte.
„Ja, die bessere Lösung wäre gut“, bemerkte ich abschließend. Dabei dachte ich an unser Gespräch, das wir auf der Heimfahrt aus Frankfurt miteinander geführt hatten, als ich sie nach ihrem Ausbruch aus ihrem Leben, wieder nach Hause holte. Ihre ganze Unzufriedenheit mit ihrem Leben war da bei ihr hochgekommen. Hilflos und verunsichert hatte sie dagesessen und selbst gemeint, es müsse einen besseren Weg für eine Frau geben, alles miteinander zu verbinden, Kinder, Ehe und den Beruf, der allein unabhängig macht in unserer Gesellschaft. Heute war das wahrscheinlich alles wieder verschüttet. Sie war wieder die selbstbewusste Geschäftsfrau.
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