Wilma Burk
Kinder erzieht man nicht so nebenbei
Zweites Buch von: Heute ist alles anders als gestern - besser?
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Inhaltsverzeichnis
Titel Wilma Burk Kinder erzieht man nicht so nebenbei Zweites Buch von: Heute ist alles anders als gestern - besser? Dieses ebook wurde erstellt bei
Einleitung
1. Kapitel - 1955
2. Kapitel - 1956
3. Kapitel - 1957
4. Kapitel - 1958
5. Kapitel - 1959
6. Kapitel - 1960
7. Kapitel - 1961
8. Kapitel - 1962
9. Kapitel - 1963
10. Kapitel - 1964
11. Kapitel - 1965
12. Kapitel - 1966
13. Kapitel - 1967
14. Kapitel - 1968
15. Kapitel - 1969
16. Kapitel - 1970
17. Kapitel - 1971
18. Kapitel - 1972
19. Kapitel - 1973
20. Kapitel - 1974
21. Kapitel - 1975
22. Kapitel - 1976
23. Kapitel - 1977
24. Kapitel - 1978
25. Kapitel - 1979
26. Kapitel - 1980
27. Kapitel - 1981
28. Kapitel - 1982
29. Kapitel - 1983
30. Kapitel - 1984
31. Kapitel - 1985
32. Kapitel - 1986
33. Kapitel - 1987
34. Kapitel - 1988
35. Kapitel - 1989
Impressum neobooks
Mir ist, als wäre es gestern erst gewesen, dass Mama empört gesagt hat: „Kinder erzieht man nicht so nebenbei!“ Danach hatte die kleine energische Person ihre Koffer gepackt und war von Berlin aus zu meiner acht Jahre jüngeren Schwester Traudel nach Hannover gefahren. Das war 1959.
Ich sehe sie noch vor mir, wie sie am Fenster des Zuges stand, uns munter aus großen Augen ansah und sich die grauer werdenden Haare unter den kleinen schwarzen Hut strich. Sie strotzte vor alter Energie, so, wie ich sie immer gekannt habe. Für sie war es unfassbar, dass Traudel ihre Mitarbeit in ihrem Familienbetrieb, einem Autogeschäft mit Kfz-Werkstatt, wichtiger zu sein schien als ihre Kinder. Ich wusste, meine Schwester würde sich einiges von ihr anhören müssen.
„Katrina, ich bin bald zurück!“, rief sie mir noch zu, als der Zug begann, aus dem Bahnhof zu rollen.
Ich nickte. Doch Konrad, mein Mann, der neben mir stand, sagte leise: „Wenn das man stimmt!“
Nachdenklich verließ ich mit ihm den West-Berliner Bahnhof-Zoo. Wir gingen die lange Treppe vom Bahnsteig hinunter und vorbei an den Fahrkartenhäuschen, in denen Reichsbahnangestellte der DDR in ihren blauen Uniformen saßen. Es gehörte zu den unverständlichen Regelungen jener Zeit in Berlin, dass das gesamte Reichsbahngelände innerhalb West-Berlins von Ost-Berlin aus verwaltet wurde. Wir durchquerten die staubige und unfreundliche Bahnhofshalle, die wieder, bis auf ein paar herumlungernde Gestalten, leer wirkte. Leben war hier nur, wenn ein Zug ankam oder abfuhr. Und dies waren Interzonenzüge von oder nach der Bundesrepublik, denn West-Berlin war eine Insel innerhalb der DDR. Kein Zug fuhr mehr von hier aus in das Umland von Berlin, in die Mark Brandenburg oder weiter. Berlin war eine unter den vier Siegermächten des Krieges in Sektoren aufgeteilte Stadt. Wobei die drei Westsektoren sich zu West-Berlin zusammengeschlossen hatten und der Ostsektor zur Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erklärt wurde.
Schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, fuhren wir vom Bahnhof aus mit unserem ersten Auto, einem VW-Käfer, durch die Straßen Berlins nach Hause. Wir wohnten am Rande der Stadt, in einem der dort neu errichteten Wohnblöcke. Noch waren wir von Feldern umgeben bis zur nahen Grenze der DDR, Dahinter begann die Mark Brandenburg.
Ich weiß noch, wie wehmütig mir bei dieser Heimfahrt zumute war. Wenn Mama wirklich in Hannover blieb - was Konrad vermutete -, so wäre nur noch ich allein als Einzige aus unserer Familie in Berlin. Vorbei die Zeit, in der es früher sonntags lebhaft in unserem kleinen Schrebergarten zuging, wenn Mama und Papa mit meinem Bruder Bruno und meiner Schwester Traudel zu uns kamen und sich in unsere Runde unter dem alten Kirschbaum noch Helmut Bruns, Konrads Freund aus Kriegstagen, dazugesellte.
„Bist du traurig?“, holte mich Konrad aus meinen Gedanken heraus, als wir unsere Wohnung fast erreicht hatten.
„Nein, nein!“, beeilte ich mich zu versichern. Aber ich wurde den traurigen Gedanken nicht los, wie schön es jetzt wäre, wenn wir wenigstens Kinder hätten. Vielleicht würde ich es dann nicht so empfinden, als wäre ich hier in West-Berlin übrig geblieben. Doch wir werden ja kinderlos bleiben. Das hatte mir zur traurigen Gewissheit werden müssen. Traudel war es, die Mama ihre geliebten Enkelkinder beschert hatte.
*
Traudel hatte schon früher als Kind ihren eigenen Kopf gehabt. Als Nesthäkchen von uns drei Geschwistern verstand sie es, viel mehr durchzusetzen als mein jüngerer Bruder Bruno oder ich. Sie konnte mit trotziger Bewegung zuerst ihre roten Zöpfe, später ihre üppige rote Haarfülle, so in den Nacken werfen, dass man lachen musste. Eben noch bockig, verstand sie es, bald darauf zu schnurren wie eine Katze, wenn sie etwas erreichen wollte. Damit hatte sie besonders bei Papa Erfolg.
Als sie gerade siebzehn Jahre alt war, wusste sie bereits, dass sie ihren Karl-Heinz heiraten würde.
Karl-Heinz Roth war ein junger Mann aus unserer Laubenkolonie am Rande der Stadt, acht Jahre älter als Traudel. Mama hatte sich bald Sorgen um diesen Altersunterschied gemacht. „Der will doch nicht mehr nur Händchen halten“, hatte sie gesagt. Am liebsten hätte sie da ihr erst sechzehn Jahre altes Nesthäkchen von ihm ferngehalten.
Doch Traudel interessierte sich für keinen anderen Jungen, nur für ihren Karl-Heinz. Alle Einwände, alle Bedenken von Papa oder irgendjemand anderem konnten sie nicht umstimmen. Eines Tages machte sie Papa klar, dass sie nicht studieren werde, so wie er es erhofft hatte. Dabei war es doch für ihn schon eine Enttäuschung gewesen, als unser Bruder Bruno vorzeitig von der Schule ohne Abitur abgegangen war. Das Abitur aber wollte Traudel wenigstens noch machen, so versprach sie. Doch dann würde sie sofort Karl-Heinz heiraten und mit ihm nach Hannover gehen.
Traudel war das letzte Kind von Mama und Papa, welches das Elternhaus verlassen wollte. Ich, die Älteste, hatte ein paar Jahre vorher geheiratet und danach war unser Bruder Bruno nach Australien ausgewandert. Das hatte Mama und Papa sehr getroffen. Nun schmerzte es sie besonders, dass auch Traudel, ihr Küken, nicht in Berlin bleiben würde.
„Aber sie bleibt doch in Deutschland“, versuchte ich Mama zu trösten, als 1955 der Tag von Traudels Hochzeit näher kam.
„Und wenn schon!“, entgegnete sie traurig. „Sie ist dann aber so weit weg von uns.“
Karl-Heinz Roth war Kfz-Meister. Er sollte die Autowerkstatt eines kinderlosen und verwitweten Onkels bei Hannover übernehmen.
„Bestimmt kann ich in dem Betrieb mitarbeiten“, nahm sich Traudel vor und himmelte ihren Karl-Heinz an.
„Sobald du aber Kinder hast, hörst du doch damit auf?“, fragte Mama erschrocken. „Das kennt man ja, wenn eine Frau in einem selbständigen Betrieb erst einmal mitarbeitet, wird sie immer gebraucht. Doch die Kinder benötigen die Mutter schließlich auch.“
Traudel lachte und warf ihre rote Haarfülle in den Nacken, wobei ihre grünlich schimmernden Augen herausfordernd blitzten. „Wer denkt denn gleich an Kinder. Das hat Zeit! Warum sollten die sofort kommen. Und überhaupt! Warum soll ich mit der Arbeit im Betrieb dann aufhören? Heute ist das anders als bei dir, Mama! Heute begnügt man sich als Frau nicht mehr mit Haushalt und Kindererziehung.“
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