Ich lächelte, schmiegte mich tiefer in Konrads Arm und drehte mich mit ihm. Auch uns überkam ein Gefühl inniger Verbundenheit.
Onkel Oskar, der Onkel aus Hannover von Karl-Heinz, hatte eine besondere Überraschung für das Brautpaar. Plötzlich hupte es laut und vernehmlich vor der Kneipe. Onkel Oskar hatte sein Geschenk geholt. Geschmückt mit einer großen Schleife auf der Motorhaube, stand da ein kleines Auto.
Traudel rannte aufgeregt hinaus und zog Karl-Heinz mit sich. Neugierig folgten die Gäste, neugierig kamen Kinder auf der Straße dazu und blieben Passanten stehen.
„Soll der für uns sein?“, fragte Traudel ungläubig und drückte ihre Hände an die Brust.
„Was dachtest du?“, fragte Onkel Oskar selbstgefällig. „Ein Kfz-Meister in meinem Betrieb, der kein Auto besitzt, wo gibt es denn so was?“ Und er blickte verschmitzt über den Rand seiner silbern eingefassten Brille. Dabei lachte er zufrieden, dass sein kleiner Schmerbauch vergnügt dazu auf und ab hüpfte. Er hatte sich extra einen neuen dunklen Anzug zu der Feier gekauft und eine schwarze Fliege umgebunden. Seine dünnen, mit weißen Fäden durchzogenen dunklen Haare hatte er besonders sorgsam von dem tiefen Scheitel aus gleichmäßig über den Kopf verteilt.
Ich sah wohl Konrads sehnsüchtigen Blick nach dem Auto. Auch Onkel Oskar sah es. „Lassen Sie man, junger Mann“, wollte er ihn trösten, „das dauert nicht mehr lange, dann haben auch S ie ein Auto. Nicht umsonst bauen sie jetzt hier in der Stadt das erste Stück einer Stadtautobahn. Die Zukunft gehört dem Auto. Da führt nichts dran vorbei. Bald geht keiner mehr zu Fuß.“
Ich sah ihn zweifelnd an.
„Bestimmt! Glauben Sie mir, kleine Frau! Ich kann das in meiner Autowerkstatt spüren“, bekräftigte er seine Worte.
Helmut Bruns, Konrads Freund aus Kriegstagen, den wir seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatten, besaß bereits ein eigenes Auto. Wie oft war er mit uns durch die Stadt gefahren, damals, als unsere Freundschaft mit ihm noch bestand, hatte es Konrad nichts ausgemacht. Doch jetzt, da immer häufiger dieser oder jener plötzlich ein Auto vor der Tür stehen hatte, spürte ich, wie gern auch er eins hätte. Zunächst aber war uns das nicht möglich, ohne einen Kredit aufzunehmen – und davor scheute er zurück.
Kaufen auf Kredit, das wurde jetzt üblich. Man hatte Arbeit, man verdiente sein Geld und konnte somit in die Zukunft planen. Die Wirtschaft in West-Berlin entwickelte sich zwar nicht so schnell und so gut wie in der Bundesrepublik - bedingt durch die Insellage der zweigeteilten Stadt innerhalb der DDR -, aber es ging spürbar aufwärts.
Darüber redeten die Alten auch auf Traudels Hochzeit. Vielleicht taten sie sich sogar wichtig mit dem, was sie bereits erreicht hatten. Die Jungen aber tanzten lieber in die Nacht hinein. Eigentlich waren Konrad und ich schon fast ein altes Ehepaar, doch an diesem Tag fühlte ich mich um Jahre zurückversetzt. Ich sah ihn mit den verliebten Augen der ersten Tage, sein schmales Gesicht unter dunklen Haaren, und schmiegte mich beim Tanzen enger an seine schlanke aufrechte Gestalt. Wie gut ihm der dunkle Anzug stand. Ein paar Falten um seine Augen, die ihren warmen Glanz nicht verloren hatten, verrieten, dass er keine zwanzig mehr war. Jetzt mit zweiunddreißig Jahren war er etwas breiter geworden. Aber auch mich ärgerten bereits gewisse kleine, fast unmerkliche Pölsterchen um die Taille. Ein Zeichen der Zeit, dass es allen wieder besser ging. Längst gab es Dicke, man kämpfte mit seinem Gewicht, mit Torte und Sahne. So mancher Hochzeitsgast sagte bei einem Gläschen auch ein „Prost“ zu viel. Damit war man nicht zimperlich, man war fröhlich. Es war viel zu schön, dass es sich nach dem Krieg wieder zu leben lohnte.
Alle verabschiedeten sich gegen Morgen in guter Laune, wenn auch müde. „Wann sehen wir uns wieder?“, wurde gefragt.
„Bei der nächsten Hochzeit“, sagte jemand.
Doch einen hörte ich murmeln: „Vielleicht auch bei der nächsten Beerdigung.“
Ärgerlich wollte ich etwas erwidern. Doch Konrad zog mich zur Seite. „So ist das nun einmal mit Familienfeiern“, sagte er.
Und es stimmte ja. Entfernte Verwandte, wann sah man sie? Zu Hochzeiten oder zu Beerdigungen.
Karl Heinz verabschiedete sich hier schon von seinen Eltern, während das junge Paar mit zu Mama und Papa gingen.
Obgleich Karl-Heinz nach der Feier nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen war, ließ er es sich nicht nehmen, sein neues, kleines Auto die paar Meter in der Straße bis vor das Haus von Mama und Papa zu fahren. Traudel hatte sich fröhlich beschwipst dazu neben ihn geklemmt. Myrtenkrönchen und Schleier waren längst verschwunden, doch den weiten Rock in dem engen Auto unterzubringen, hatte sie Mühe. Ich stopfte ihr noch die letzen Zipfel von Rock und Petticoat mit hinein. Die Hochzeitsgesellschaft umstand johlend das Auto. Da waren wohl alle Leute in der Umgebung wach geworden. Alle winkten zum Abschied, als gingen Traudel und Karl-Heinz auf Hochzeitsreise. Alle lachten und winkten immer noch, als sie nur ein paar Meter weiter wieder hielten, ausstiegen und mit Mama und Papa im Haus verschwanden.
Die Hochzeitsgäste zerstreuten sich. Die einen gingen zur U-Bahn, die andern zur S-Bahn und einige zur Straßenbahn wie wir.
Als die Bahn mit uns so gemütlich, manchmal quietschend, nach Hause zuckelte, dachte ich an Traudel und Karl-Heinz. Doch ich erinnerte mich auch an unsere enttäuschende Hochzeitsnacht von damals, bei der Konrad vor Trunkenheit einfach eingeschlafen war. Im Nachhinein musste ich darüber lachen.
„Na, ob Traudel und Karl-Heinz eine bessere Hochzeitsnacht haben werden als wir?“, neckte ich Konrad.
Er grinste. „Bei denen ist es bestimmt nicht das erste Mal wie bei uns. Und außerdem konnte er tatsächlich noch ein Auto bewegen, dann ist er wohl nicht so betrunken, wie ich es damals war.“
„Mein Gott, ist das schon lange her!“, stellte ich fest, gähnte und sah müde aus dem Fenster der Straßenbahn auf die noch stillen Straßen und verschlafenen Häuser dieses Morgens.
*
Am nächsten Tag verabschiedete sich Traudel ohne Wehmut von Mama und Papa und von ihrem bisherigen Leben. Sie stieg zu Karl-Heinz in ihr vollgepacktes Auto. Da war alles drin, was ihnen mitnehmenswert erschien, Erinnerungsstücke neben praktischen Dingen und Geschenken. Sie hatten nicht mehr in der Hauptsache Glaswaren und mehrere Likörservice zur Hochzeit bekommen, wie wir damals. Bei ihnen hatte sich jeder vorher informiert und gezielt gekauft, was sie brauchen konnten. Eingeklemmt zwischen Beuteln, Kisten, Taschen und Koffern saß Traudel neben Karl-Heinz und strahlte glücklich.
„Da werden bei euch die Vopos an der Grenze zur DDR ganz schön was zu kontrollieren haben“, vermutete Konrad.
„Ich fürchte auch, dass wir den Wagen auspacken müssen“, befürchtete Karl-Heinz. „Dabei haben wir bereits vieles zu Paketen verpackt, die Mama uns mit der Post zuschicken will.“
„Ach was“, meinte Traudel optimistisch, „dann dauert die Kontrolle an der Grenze eben länger als sonst. Wir werden es überstehen. Haben ja nichts Verbotenes dabei.“ Und sie fuhr zuversichtlich ab, nach Hannover in ein neues Leben. Ich wusste, sie war froh, Berlin verlassen zu können, da sie meinte, es werde nie aufhören, Spannungen um diese Stadt zwischen Ost und West zu geben.
*
Mama und Papa blieben nun allein zurück. Es war ruhig bei ihnen geworden, alle Kinder aus dem Haus. Abends, nach meiner Arbeitszeit in einem Verlag, fuhr ich jetzt manchmal für kurze Zeit zu ihnen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie weiterleben sollten, nur sie beide, kein Lachen, kein Rufen mehr von einem ihrer Kinder, für die sie doch immer da gewesen waren.
Mama freute sich, wenn ich, das einzige Kind, das noch in Berlin lebte, zu ihnen kam. Kaum hatten wir die ersten Worte gewechselt, lief sie schon und holte von Traudel oder Bruno einen Brief, den sie mir vorlas. Und Traudel schrieb zuerst fleißig. Sie berichtete von ihrer kleinen Wohnung, die Onkel Oskar ihnen in seinem Haus eingerichtet hatte. Es war außerhalb Hannovers, da, wo die Stadt begann, wo eine schon lebhaft befahrene Landstraße aus der Stadt hinausführte und sich weiter im Land verlor. Das Haus stand in einem großen verwilderten Garten. Daneben gab es einen geräumigen Hof, auf dem stets irgendwelche Autos standen, nicht nur zur Reparatur, sondern auch einige zum Verkauf. Dahinter befand sich die Werkstatt und dann dehnten sich nur noch weite Wiesen neben der Landstraße bis hin zu einem kleinen Fluss und weiter bis zu einem Waldesrand.
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