Was er meistens verdrängt, ist das Risiko für seine Mannschaft und für sich. Natürlich trainieren sie sehr oft. Mit raffinierten EDV-Programmen werden immer neue Bedrohungsszenarien simuliert. Desto öfter sie diese Ernstfälle übten, umso klarer wurde es für Morris, dass sie gegen eine Reihe von Gefahren absolut machtlos waren. Der hohe technologische Aufwand mag Sprengstoffe aufspüren, aber leider lernen die Attentäter immer schneller dazu, wie sie den technischen Fortschritt für sich nutzen können.
Morgens, wenn Morris aus dem Haus geht, wünscht er sich jeden Tag eine andere Welt, eine in der man sicher sein kann, abends auch wieder nach Hause zu kommen. Selbst wenn es ihn in der Folge den Job kosten würde, wäre er mit einer solchen Welt glücklicher. Auch wenn sie auf Grund des Gefahrenpotentials und wegen der hohen psychischen Anspannung viel früher in Ruhestand gehen können, nützt ihm dies nichts, sobald einmal doch was passiert. Kommt es zur Explosion, so geht gleichzeitig seine ganze Welt unter. Da ist einfach kein Sicherheitsabstand zwischen ihm und dem Tod.
Seit mehreren Monaten denkt Morris darüber nach, den Job einfach hinzuknallen, aber was dann? Er hat nicht das Gefühl, echte Alternativen zu haben und vor allem, seine Crew verlässt sich auf ihn als auch auf seine Erfahrungen. Da kann man nicht so einfach aussteigen und hinter einem die Sintflut. Morris hat ebenso auf jede Partnerschaft verzichtet, weil er es keinem geliebten Menschen zumuten kann, mit dieser Angst jeden Tag zu beginnen.
Morris versucht, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, diese trüben Gedanken kann er jetzt gar nicht brauchen. Grübeln kann er genauso gut später.
Dienstag, 24. September 2013 – 15:31
Flughafen Schönefeld, Berlin
Silke ist noch zeitig dran und daher kann sie noch ein Kännchen Tee einnehmen, bevor es losgeht. Im Marché Zigolioni gibt es keinen freien Tisch mehr, also fragt sie, ob sie sich an einem Tisch dazusetzen darf. Das Ehepaar wirkt sehr nett und räumt die Taschen vom dritten Sessel sofort herunter. Die beiden sind etwa in ihrem Alter, also irgendwas vor 50. Er stellt sich und seine Frau sogar vor. Lackner Emmy und Albert heißen die beiden. Die drei kommen ins Gespräch, bei dem sich herausstellt, dass sie auch auf dem Weg nach London sind.
Erst jetzt fällt Silke auf, dass Emmy blind ist. Sie trägt aber keine Schleife, hat keinen Stock und schon gar keinen Hund bei sich. Silke sieht ganz fasziniert zu, wie zielgenau Emmy ihre Tasse fasst. Albert weiß Silkes Blicke sofort zu deuten, denn die meisten Menschen reagieren so wie Silke. „Meine Emmy ist schon seit der Geburt blind, aber meistens verhalte ich mich viel ungeschickter als sie.“
„Ich bin so etwas wie eine Fledermaus“ ergänzt Emmy. „Ich habe so eine Art von Radarsystem, mit dem kann ich spüren wo etwas ist, wo ich besser nicht hingreife, und auf diese Weise habe ich einen sechsten Sinn für Gefahren entwickelt!“
Silke ist tief beeindruckt, denn sie erfährt dann noch, dass Emmy jeden Tag kocht, das Haus sauber macht und meistens sogar alleine einkaufen geht. Das Gespräch wird jäh unterbrochen, als zwei Nigerianer von den hinteren Tischen nach vorne drängen und dabei heftig und laut miteinander streiten. Obwohl kaum wer im Lokal die beiden verstehen kann, haben die beiden die Aufmerksamkeit aller Gäste errungen und alle deuten die Gesten und Worte als einen heftigen Streit.
Vor dem Eingang bleiben die beiden Afrikaner stehen und streiten ebenso heftig weiter. Dann beginnen sie sich zu prügeln. Interessanterweise sehen alle Leute im Lokal zu, so als hätten sie bei einem Boxkampf auf einen der beiden gewettet. Niemand kann den Blick von den beiden abwenden. Daher fällt auch nicht auf, dass ein etwa 12-jähriger das Lokal ebenfalls verlässt, mit einigen Handtaschen unter seiner Jacke. Eine Security kommt herbeigeeilt und bringt die beiden Streithähne dazu, den Kampf zu beenden.
Damit wenden die Gäste des Lokals ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Gesprächspartnern am Tisch zu. Kurz danach bemerkt eine der Damen, dass ihre Handtasche fehlt. Dies alarmiert dann die anderen Gäste und so kommen fünf Damen zur Erkenntnis, dass ihnen die Handtaschen während dieses Konflikts abhandenkamen. Der Junge war inzwischen verschwunden und die beiden Streithähne ebenfalls.
Silke ist recht froh, dass ihr kein Schaden entstanden ist, denn sie hat ihre Tasche die ganze Zeit auf ihrem Schoß festgehalten. Emmy hat überhaupt keine Tasche dabei. Emmy glaubt, dass die drei fiese Trickdiebe waren, die hier eine Show abgezogen haben.
Am Tisch links von Silke sitzt eine Mutter mit zwei halbwüchsigen Kindern, die auf ihren elektronischen Geräten spielen und dabei recht störende, piepsende Töne produzieren. Das nervt ein wenig, weswegen jemand vom Personal kommt und die beiden ersucht, diese Geräusche einzustellen. Die Kids reagieren darauf nicht, also fordert die Mutter die beiden auf, das Spiel einzustellen. Mit einem gequälten Gesicht folgen sie schließlich.
Es ist jetzt eine Stunde vor Abflug und daher bezahlt Silke, um einzuchecken. Eine Menge anderer Leute folgt ihrem Beispiel und so ist das Lokal binnen weniger Minuten fast leer.
Silke steht inzwischen in der langen Schlange vor dem Gepäcksschalter, Emmy und Albert stehen direkt hinter ihr. Das Personal am Schalter wirkt routiniert, aber es gibt immer wieder kleine Diskussionen, die den Ablauf verzögern. Ein Mann, der jetzt ganz vorne steht, will seinen Aktenkoffer unbedingt persönlich in die Maschine mitnehmen und da gibt es irgendein Problem. Da die Zeit drängt, einigen sie sich schließlich, und es geht weiter. Nach etwa 20 Minuten ist auch Silke ihr Gepäck los.
Dann die Passkontrolle und die Sicherheitsschleuse. Dort gibt es wieder Schwierigkeiten mit demselben Mann. Er wird von den Beamten zur Seite genommen und es geht weiter. Bei Silke piepst es einmal heftig, wobei Silke sofort einfällt, dass sie ihre Wohnungsschlüssel eingesteckt hat. Damit ist das Problem aber auch schon beseitigt.
Auch bei Albert piepst es und Silke bekommt mit, dass Albert eine Metallplatte in seinem Kopf hat, die von einem Unfall herrührt. Er hat die entsprechenden Atteste und Röntgenaufnahmen dabei, sodass dies ebenso schnell geklärt werden kann.
Silke würde noch gern Phil anrufen, denn er weiß nur, dass sie kommt, aber nicht genau wann. Da sie allerdings kein Handy auf die Reise mitgenommen hat, sucht sie nun ein öffentliches Telefon, das sich jedoch hier im Transitraum nicht finden lässt. Also wendet sie sich an Albert, der ihr gern sein Handy leiht.
„Hallo Phil, ich möchte dich nicht stören, sondern nur mitteilen, dass ich schon am Flughafen bin. Ich freue mich schon so sehr auf euch!“
„Hi Silke, wir freuen uns auch auf dich. Yvette ist schon ganz aufgeregt und ungeduldig. Welchen Flug nimmst du?“
„Ich glaube easyFly heißt das Flugzeug, oder so ähnlich“
Phil muss einmal kräftig schlucken. Er hat die Geschehnisse von letzter Woche noch sehr präsent und da war easyFly ebenfalls beteiligt.
„Wann kommst du an?“ Silke glaubt, dass sie ungefähr 18 Uhr gelesen hat, aber beschwören kann sie es nicht. Phil verspricht sie abzuholen, sie möge sich einfach keine Sorgen machen.
Silke kauft noch schnell im Duty-free-Shop ein Parfum für Jasmin, denn sie weiß natürlich, dass Phil vor ein paar Jahren eine neue Dame des Herzens gefunden hat und das findet sie auch gut so.
Vor Silke stehen zwei gertenschlanke, top gestylte Frauen aus Russland. Sie sprechen sehr gutes Deutsch, nur am ‚CH‘ das ganz tief im Gaumen gewürgt wird, merkt man, woher sie kommen. Silke hat den Eindruck, dass die beiden auf Einkaufstour sind und da spürt man auch ein wenig Überheblichkeit mitschwingen. Sie sprechen sich mit Dunja und Tatjana an. Silke fällt vor allem der Schmuck an den beiden auf. Damit hätte man eine mehrköpfige Familie ein paar Jahre ernähren können.
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