Beide atmen tief durch, denn es ist jetzt kurz nach 9 Uhr und diesmal bleibt genug Zeit, hoffen sie jedenfalls. In den verbleibenden knapp 8 Stunden kann man vielleicht doch entscheidende Schritte unternehmen. Vor allem ist der Flieger noch am Boden und dies verbessert die Ausgangslage wesentlich.
Natürlich kontaktiert er Mr. Densham, der ihn fast schon wie einen alten Bekannten begrüßt. Lieber allerdings wäre es Densham, keinen solchen Anruf zu bekommen. Konnte es nicht einfach mal eine Einladung ins Pub sein? Musste immer das Schicksal an seinem Nervenkostüm rütteln?
Densham ließ sich die Nachricht mit dem Kuvert von einem Streifenwagen bringen, nachdem Daisy die Botschaft gefaxt hatte. Es ist ein witziger Anblick, wie Daisy mit Handschuhen am Fax herum hantiert. Diesmal hat Mr. Graves etwas zu lachen, aber er entschuldigt sich auch sofort.
Freitag, 20. September 2013 – 09:26
Flugaufsicht, Top Secret, London
Densham fällt zunächst das Wort ‚Unbelehrbare‘ ins Auge. Dies entspricht offenbar der Verärgerung des Täters, weil seine letzte Drohung nicht gebührend respektiert worden war. Wenn er oder einer seiner Kumpane die Szene vor dem Bismarckplatz verfolgt hatte, so konnte er daraus nur schließen, nicht ernst genommen worden zu sein.
Die Notlandung in London ist von der Presse, auf ausdrücklichen Wunsch der Polizei, nicht publiziert worden, also wusste der Täter auch nicht definitiv, ob seine Maßnahme gefruchtet hatte. Es sei denn, jemand aus seiner Bande wäre vor Ort gewesen.
Der Täter ist jedenfalls verärgert und genau dies hätte Densham gern vermieden. Gekränkte, oder verspottete Täter reagieren sehr unberechenbar und mitunter echt skrupellos. Densham hatte schon mehrfach erlebt, wie Täter im sogenannten psychologischen Nebel keinem vernünftigen Verhandlungselement mehr zugänglich waren. Manchmal endet alles in einem Amoklauf, in ungezügelter Aggression, oder in Verzweiflungstaten, die weitere Opfer fordern. Soweit möchte es Densham keinesfalls kommen lassen. Zumindest, wenn es nach ihm geht, aber leider tut es dies eben nicht immer.
Aus den 100.000,- vom Anfang der Woche ist nun der 10-fache Betrag geworden. Der Schaden an der notgelandeten Maschine beläuft sich nach ersten Schätzungen auf mehr als 2 Millionen.
Was aber, wenn es nur ein Schmalspurbandit ist, der einfach 10 oder 20.000 abkassieren will? Es gibt relativ oft Fälle von Menschen, die in finanziellen Engpässen stecken und die nur aus ihrer persönlichen Klemme kommen möchten. Natürlich werden solche Dinge nicht publiziert, denn man will die Leute gar nicht auf die Idee bringen, dass fliegen unsicher wäre bzw. dass eine Erpressung zum Erfolg führen kann.
Densham fliegt schon seit Jahren nicht mehr, genau genommen seit er diesen Job macht, denn Erpressungsversuche bei Fluglinien sind inzwischen häufiger als Banküberfälle. Meistens sind die Täter nur so naive und schlichte Wesen, dass man sie spätestens nach der Geldübergabe schnappt.
Es gibt sogar einen eigenen Fond, in welchen die Fluggesellschaften freiwillig einzahlen, um sich solche lästigen kleinen Dinge vom Hals zu halten. Densham weiß seit langer Zeit, dass die Probleme nicht im Flugwesen liegen. Aus einer Sicherheitstagung weiß er, dass es ähnliche Vorkommnisse auch bei Passagierschiffen, Frachtschiffen, Eisenbahngesellschaften und sogar bei Paketdiensten gibt.
Dass es mehr Flugzeuge betrifft, liegt allerdings an der bescheidenen Phantasie der Menschen, die nur daran denken, dass ein Flugzeug herunterfallen kann. Bei anderen Transportmitteln rechnen die Täter mehr damit, dass man die Züge oder Schiffe anhalten kann. Dies ist zwar auch nur eine Illusion, denn ein Kreuzfahrtschiff braucht mehrere Kilometer um anzuhalten, aber die Menschen denken nun mal so.
Auf dieser Erde und in diesem Leben gibt es wohl keine Sicherheit. Das Problem dahinter ist die Armut der Menschen, sei es auf den anderen Kontinenten oder auch hier in Europa. Wer einigermaßen mit seinen materiellen Mitteln auskommt, der geht kein so hohes Risiko ein, jedenfalls wenn er bei klarem Verstand ist. In der Öffentlichkeit werden zumeist nur jene Fälle diskutiert, die auf Gier beruhen, aber das ist in Summe betrachtet eine Minderheit. Die meisten Fälle – was auch seine Praxis bestätigt – beruhen auf Verzweiflung und Not.
Manchmal geht es um ein Spenderorgan, zuweilen um eine teure Operation, eine Flucht aus dem Gefängnis, oder die Freipressung von Gefangenen. Bei dieser aktuellen Erpressung gibt es keinen Hinweis auf derartige Ansätze.
Inzwischen treffen erste Ergebnisse der Ermittlung ein. Der Brief wurde in einem anderen Stadtteil von London aufgegeben, einfach per Briefmarke und Postkasten. Dabei konnte der Kreis der in Frage kommenden Postkästen stark eingegrenzt werden. Die Auswertung der Kameras bei Banken, Geschäftsportalen, Kameras der Verkehrsüberwachung, und ähnliche Optionen brachten keinen Erfolg.
Es gibt einige Personen, die für den Briefeinwurf in Frage kommen, soweit man dies aus den Aufnahmen erkennen kann. Die Besonderheit daran ist, dass es offenbar mehrere Personen gibt, die mit einem Kuvert in dieser Größe losgeschickt wurden. Alle aufgespürten Aufnahmen zeigen jedoch nur die Rückseite der Personen und jede von ihnen ist in eine Jacke mit Kapuze gehüllt.
Im Grunde sehen alle sechs in Frage kommenden Personen gleich aus, jedenfalls von hinten. Erschwerend kommt noch dazu, dass diese Menschen offenbar genau wussten, wo sich die Kameras befinden und sie stets mit dem Rücken zur Kamera agierten.
Erfahrungsgemäß bringen Zeugenbefragungen nur Schilderungen von grünen Männchen oder sie sind sich einig, dass es eine Mischung aus Zwerg und Riese sein muss. Mit anderen Worten, eher aussichtslos. Man wird natürlich jede Spur verfolgen, aber man sollte sich davon nichts Bedeutendes erwarten.
Was den Ausdruck betrifft, so kommt man zur Erkenntnis, dass der verwendete Drucker eigentlich ein Kopierer ist. Dies bedeutet, dass der Ausdruck offenbar in irgendeinem Copyshop produziert wurde. Da es sich auch nur um eine einzelne Kopie handelt, wäre das Aufspüren eine mehrwöchige Aktion, die wahrscheinlich keinen Brauchwert hat. In jedem Copyshop in der City werden täglich tausende Kopien gemacht und niemand kann sagen, ob diese vorliegende Kopie vor zwei Tagen oder zwei Monaten angefertigt wurde. Also ist auch dies eine Sackgasse.
Densham überlegt, wie denn das Rote Kreuz in Bern in dieses Szenario passt. Wie möchte der Täter überhaupt feststellen, ob das Geld rechtzeitig dort einlangt? Selbst wenn der Täter ein Philanthrop wäre, der dem roten Kreuz auf die Sprünge helfen möchte! Wie kommt er an die Kontodaten, um den Eingang des Lösegeldes zu checken? Woher soll das Signal kommen, um diese Aktion zu stoppen, wenn der Täter keinen Einblick in das Konto hat? Darüber muss er noch weiter nachdenken.
Nun aber ist es Zeit, Kontakt mit Wilson Air aufzunehmen. Nach seinen Unterlagen wurde die Gesellschaft in London gegründet, hat aber ihren Sitz in Budapest. Sie wurde als Billigfluglinie für den osteuropäischen Markt konzipiert. Hier gibt es eine kleine Gemeinsamkeit, denn der Flug von easyFly vom Dienstag gehört auch zu einer Billigfluglinie, welche in London gegründet wurde. Hinter easyFly steckt allerdings ein zypriotischer Geschäftsmann.
In beiden Fällen Billigfluglinien, also vielleicht ist der Täter einfach jemand der gegen diese billige Art des Reisens ist. Zum Beispiel jemand, der für eine teurere Fluglinie arbeitet und der Preisdumping am Markt verhindern möchte?
Die geforderten Geldbeträge gefährden natürlich keine Fluglinie, dazu sind sie in beiden Fällen zu gering. Aber wenn diese Vorfälle durchsickern und dadurch das Image der Fluglinien leidet, so kann es schon einen Kundenschwund nach sich ziehen. Dies ist bisher noch die wahrscheinlichste Theorie. Dennoch ist es nur eine Spekulation.
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