Der nervöse, irische Staatsbürger, der auf C1, also direkt hinter der Tür des Cockpits saß, der mit seiner 10-jährige Tochter reiste, gab den Beamten eine ebenso interessante Geschichte zu Protokoll. Er lebte noch vor kurzem mit seiner Frau und seiner Tochter in der Nähe von Marseille, also in Südfrankreich. Die Ehe wurde zunehmend schwieriger und auch bei den Spekulationen mit Derivaten hatte er so manchen Misserfolg zu verzeichnen. Die Gläubiger machten ihm das Leben zunehmend schwerer und auch seine Frau drohte inzwischen mit der Scheidung. Dabei machte sie ihm unmissverständlich klar, dass er zukünftig auf seine Tochter verzichten müsste.
Da er auf Grund seiner Spekulationen nicht in der Lage sein würde, Alimente zu zahlen, sollte er mit keinerlei Besuchsrecht rechnen. In dieser Situation verkaufte er seine stillen Reserven, die er vor den Gläubigern in Sicherheit gebracht hatte und setzte sich mit der Tochter nach Marokko ab.
In seiner Verzweiflung hatte er sich auch überlegt, dass die Lebenshaltungskosten in Marokko sehr gering sein müssten, denn die Menschen dort haben auch kein großes Einkommen.
Als sie dort ankamen, fand er nach einigen Tagen einen Job in der Touristikbranche und ein Quartier, das er sich halbwegs leisten konnte. Es hatte den Anschein, dass diese Strategie erfolgreich sein würde. Für einen späteren Zeitpunkt hoffte er natürlich, dass sie sich ein besseres Quartier leisten können werden, denn das gefundene Quartier war wirklich recht bescheiden. Es bestand überhaupt nur aus einem Raum, mit notdürftiger Ausstattung.
Womit er nicht gerechnet hatte, war die Sehnsucht der Tochter nach ihrer Mutter, die von Tag zu Tag stärker wurde. Nach 5 Wochen gelang es ihm nicht mehr, seiner Tochter ausreichend Trost zu spenden und auch die Wohnsituation wurde immer ekeliger, sodass die Tränen der Tochter dann das Fass zum überlaufen brachten. Er beschloss, mit ihr nach England zu fliegen und von dort die Verhandlungen mit seiner Frau zu führen. Dabei wusste er nicht, ob ihm eine Auslieferung nach Frankreich wegen Kindesentführung drohte oder ob die Gläubiger körperliche Gewalt anwenden würden, sobald sie ihn erwischten.
Mit diesen Ängsten macht er sich dann auf den Flug nach London und er hatte wenig Hoffnung für den weiteren Verlauf seines Lebens. Dies ergab seine Stimmungslage während des Fluges. Dass er direkt hinter dem Cockpit saß, war reiner Zufall. Er hatte eine Lastminute Buchung durchgeführt, um Geld zu sparen. Die Leute, die diesen Platz ursprünglich gebucht hatten, waren offenbar verhindert, weswegen die Plätze nochmals verkauft wurden.
Da es weder eine Anzeige der Mutter gibt, noch eine Fahndung von Interpol, werden er und seine Tochter auch nach der Einvernahme nicht weiter festgehalten.
Densham erhält alle diese Informationen, aber nichts davon bringt ihn weiter. Auch die inzwischen eingetroffene DNA-Analyse der Kleider und des Bartes bringt keinen Fortschritt. Es gibt zwar Spuren auf den gefundenen Gegenständen, aber es sind weibliche DNA-Spuren. Dies deutet darauf hin, dass die Gegenstände im Mülleimer mit anderen Dingen in Kontakt kamen, sodass diese Spuren nicht weiter verwertbar sind.
Densham ist schlicht ratlos, denn das Einzige, was nach all den Bemühungen übrig bleibt, ist die Bank wegen Behinderung bei der Strafverfolgung zur Verantwortung zu ziehen. Da es sich aber um ein anderes Land handelt, ist es aussichtslos und vor allem in Bezug auf das ursprüngliche Delikt völlig sinnlos.
Das vom Botendienst überbrachte Kuvert hatte übrigens nur die Abdrücke vom Botenfahrer, von Daisy Farnsworth und von Mr. Graves.
All dies bedeutet für Densham nicht, dass sich ein dummer Scherz in Luft aufgelöst hat. Daran hätte er vielleicht noch glauben können, wenn der Airbus dieses Problem bei der Landung nicht gehabt hätte. Es waren auch verschiedentlich Personen daran beteiligt, wie der Täter in Marrakech, der Mann, der das Kuvert an den Botenfahrer ausgeliefert hatte, die Person, die das Dokument verfasste und möglichweise auch jemand, der sich in Essen auf die Ausfolgung des Geldes vorbereitet hatte.
„Nein“, denkt Densham, „dies ist kein Ende, sondern erst der Anfang. Wovon auch immer!“ Es werden jetzt unendlich viele Protokolle angefertigt werden müssen, Sicherheitsvorschriften bedürfen ebenfalls eines Checks und gegebenenfalls einer Überarbeitung. Die Fluggesellschaften, die Banken, die Sicherheitsbeauftragten, die Passstellen – es gibt einfach eine Menge Arbeit und trotzdem keinen konkreten Ansatz.
Da es weder ein Täterprofil noch eine Signatur des Täterkreises gibt, kann man eigentlich nur aufmerksam in Bereitschaft stehen. Dieses Warten auf ‚Irgendwas‘ macht Densham am meisten zu schaffen.
Es wird viele Wochen dauern bis alle Untersuchungen zu Ende gebracht sind. Irgendwann werden dann einige sicherheitstechnische Änderungen eingeführt, die zukünftigen Fällen zugute kommen sollen.
Freitag, 20. September 2013 – 08:37
Spencer House, Sheen Road, London
Daisy Farnsworth, die Sekretärin der IATA, nimmt die heutige Post entgegen. Während sie zu ihrem Büro geht, sortiert sie die Post bereits. Plötzlich bleibt sie, wie zu einer Salzsäule erstarrt, stehen. Ihr Blick fällt auf ein großes Kuvert, welches genauso aussieht, wie jenes vom Dienstag dieser Woche. Diesmal kommt es allerdings per Post und nicht durch den Botendienst. Ansonsten ist äußerlich alles ident. Es wurde offenbar in London aufgegeben.
Auch hier prangt wieder der Zusatz ‚urgent‘ auf dem Kuvert. Mr. Graves ist noch nicht im Haus, aber er wird jeden Moment erwartet. Meistens kommt er um 8 Uhr 45, spätestens 8 Uhr 50, aber in der Regel ist er sehr pünktlich. An den Tagen, an denen Daisy selbst spät dran ist, wünscht sie sich, dass er ein wenig unpünktlicher wäre, zumal er auch sehr streng zu seinen Mitarbeitern ist. Heute aber sehnt sie ihn geradezu herbei. Sie deponiert die Post auf seinem Schreibtisch und platziert das besondere Kuvert ganz oben.
Nach ihrer Meinung macht es keinen Sinn, das Kuvert jetzt zu öffnen und vielleicht wieder Fingerabdrücke zu hinterlassen, zumal er schon in unmittelbarer Nähe des Büros sein müsste.
Als Mr. Graves um 8 Uhr 50 noch nicht da ist, wird Daisy noch nervöser. Sollte sie vielleicht doch…
Das Telefon läutet und es ist der ersehnte Mr. Graves am Apparat. Höflich wie er ist, entschuldigt er sich für seine Verspätung. Es würde wohl ausnahmsweise 15 bis 20 Minuten später werden. Es wäre heute nicht sein Tag, denn irgendwie ist er heute ziemlich tollpatschig.
Während Mr. Graves Atem holt, bemüht sich Daisy zu Wort zu kommen. Vor lauter Aufregung stottert sie nur und Mr. Graves versteht gar nichts, jedenfalls nichts, was er als verständlichen Inhalt identifizieren kann.
Er fordert sie auf, Ruhe zu bewahren und tief durchzuatmen. Als sie schließlich die dringliche Lage geschildert hat, tritt er bereits bei der Bürotür herein. Er wollte sich eigentlich noch ein neues Hemd und eine neue Krawatte besorgen, aber unter diesen Umständen musste es eben auch mit dem Kaffeefleck am Hemd gehen.
So bekleckert hat sie ihren Chef noch nie gesehen, daher platzt ihr trotz der Anspannung ein lautes Lachen heraus. Schnell entschuldigt sie sich dafür und holt aus ihrem Büro ein Hemd sowie eine Krawatte für ihn. Soviel Zeit muss jetzt sein, denn „professionelles Aussehen ist die Grundlage für professionellen Erfolg“, sagt Mr. Graves immer.
Die Nachricht:
> > > > Für Unbelehrbare – Gefahr für W6 2447
> > > > Auszahlung 1.000.000,- an Rotes Kreuz in
> > > > Bern.
Ende der Nachricht.
Diesmal hat Mr. Graves Handschuhe angezogen, bevor er das Kuvert öffnete. Am Computer macht er sich schlau, um welchen Flug es diesmal geht. „Es geht um die Wilson Air Ungarn – der Flug geht von Budapest nach Thessaloniki – ein Airbus 320-200 – Abflug 17 Uhr 00“ informiert er Daisy.
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