»Herr Klöbelschuh, Sie sind der Größte!«, jubelte Doris. »Ihre Spontaneität kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.«
»Gern geschehen, Lehrerin«, brummte Herbert und blickte verlegen auf seine schweren Hände.
Reinholds Anruf hatte die Situation vollkommen verändert, und Doris war entschlossener denn je, den Nebel, der die Geschichte umgab, aufzulösen.
»Evi, müssen Sie bei Charlotte nicht Maß nehmen?«, bestürmte sie die Schneiderin. »Das wäre die Gelegenheit, ihre Fingerabdrücke zu beschaffen. Die von Backhaus selbstverständlich gleich mit.«
Evi machte hm, was sich zumindest so anhörte, als wolle sie es versuchen.
»Lothar, was ist mit Ihnen?«
»Mich können Sie von allen Aufgaben ausschließen. Ich halte es wie Kratz.«
»Oh, Reinhold hat seine Mithilfe nun doch zugesichert.«
»Und wenn schon. Ich bin draußen.«
»Na schön. Wie Sie wollen.«
»Wie hat er denn herausgefunden, wo sie wohnt?«, wollte Evi wissen.
»Beatrice«, wandte sich Doris an die Schriftstellerin. »Sie nannten uns doch den Namen der Schule, wo Eleonore Ihres Wissens zuletzt gearbeitet hatte : »Laurentius- Schule«. Er war dort und hat Schüler ausgefragt.«
»Was? Hat er sonst nichts zu tun?«, unterbrach Lothar. Er spitzte seine Lippen und äffte Reinholds Stimme nach: »Das Geschäft geht vor, liebe Evi.«
Das war selbst Herbert zu viel. »Halt die Klappe, Bölker!«, befahl er in derart rüdem Ton, dass Lothar zusammenzuckte und seinen Kopf einzog.
»Also. Sie wird fragen, was wir von ihr wollen. Was willst du dann antworten, Lehrerin?«, fragte Herbert, nachdem er Lothar zum Schweigen gebracht hatte.
»Dass wir mit ihr reden möchten. Darüber, was geschehen ist und über die Frage, warum es geschehen ist. Ferner, ob damit zu rechnen sei, dass weitere Angriffe folgen. Selbstverständlich werden wir alles ganz sachlich vortragen, ohne Kritik und laute Worte. Sonst schlägt sie uns die Tür wahrscheinlich gleich vor der Nase zu. Dennoch werden wir ihr zu verstehen geben, dass eine Anzeige nicht ausgeschlossen ist. Reinhold ist zwar der Meinung, dass sie sich Genugtuung verschafft hat, doch darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen.«
»Sie möchten sich nicht darauf verlassen, natürlich«, höhnte Lothar und verzog sein Gesicht zu einem falschen Lächeln. »Sie platzen vor Neugier, das ist es! Um Beatrice geht es Ihnen doch gar nicht. Oder haben Sie schon einmal daran gedacht, sie vor Beginn Ihrer Aktion um ihre Einwilligung zu bitten? Sie hat doch klipp und klar gesagt, dass sie mit dieser Furie auf keinen Fall mehr etwas zu tun haben will und deswegen ablehnt, sie anzuzeigen. Und nun wollen Sie ihr einen Besuch abstatten, was nur Staub aufwirbeln wird, also genau das Gegenteil von dem, was Beatrice möchte.«
»Wieso sind Sie denn auf einmal so besorgt um sie?«, stichelte Margot. »Nach dieser Ohrfeige. Ihre Wange glüht ja immer noch.«
Doch Beatrice schien ihre Meinung geändert zu haben. »Wenn Sie damit erreichen können, dass Eleonore mir nie wieder zu nahe kommt, will ich Ihnen gerne mein Einverständnis geben.«
»Wirklich? Das ist ja wunderbar«, rief Doris und strahlte in die Runde. »Sie haben es alle gehört. Sie auch, Lothar?»
Doch der hatte nur noch ein Maulen übrig. »Lassen Sie mich doch in Ruhe.«
»Zunächst sorgen wir dafür, dass unserer Freundin kein Haar mehr gekrümmt werden wird, und danach beschäftigen wir uns mit dem Verfasser des Drohbriefes«, setzte Doris die Erläuterung ihres Planes fort.
Lothar holte tief Luft und schüttelte seinen Kopf. Dabei streifte sein Blick Beatrice, die mit hochgezogenen Schultern geradeaus ins Leere blickte.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte er und schien die Ohrfeige bereits vergessen zu haben, denn er griff beherzt nach ihrer Hand und presste sie an seine Wange. »Sie ist ja eiskalt!«
»Großer Gott, richtig erfroren sieht sie aus«, stellte nun auch Margot bestürzt fest. »Sie müssen gleich etwas Heißes trinken, Tee vielleicht oder einfach nur heißes Wasser, so wie es die Chinesen bei jeder Gelegenheit tun.«
»Die Chinesen trinken heißes Wasser? Woher hast du das denn?«, krittelte Herbert abschätzig.
»Ich habe darüber gelesen«, erwiderte sie und suchte Doris’ Blick, die offenbar verstanden hatte, denn sie sprang sogleich ein. »Ja, ich hörte auch schon davon. Danach soll heißes Wasser wahre Wunder bei Erkältungen bewirken. Aber vielleicht tut es auch eine schöne Tasse Tee. Pfefferminze, Hagebutte, Kamille, Fenchel. Sie brauchen es nur zu sagen.«
»In den Teebeuteln ist bestimmt nur noch Staub«, lästerte Herbert. »In diesem Palast hier ist nur der Champagner frisch. Aber ich trink sowieso keinen Tee.«
»Wenn du doch einmal still sein könntest und aufhören würdest, unsere Vorsitzende zu beleidigen«, fuhr Margot ihn an. »Es tut mir leid, Doris, er weiß sich einfach nicht zu benehmen.«
»Wahrscheinlich hat er sogar recht«, lachte Doris. »Ich habe seit Ewigkeiten keinen Blick mehr in den Vorratsschank getan.«
»Ein starker Kaffee wäre gut«, unterbrach Beatrice und massierte ihre Schläfen. »Wenn möglich mit einem Spritzer Zitrone. Ich habe heftige Kopfschmerzen, und diese Mischung hilft zuverlässiger als jede Schmerztablette. Aber ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
»Es macht mir keine Umstände. Geben Sie mir drei Minuten?«
Doris verschwand und war kurze Zeit später mit Kaffee und Zitrone zurück. »Ich besitze eine echte italienische Espressomaschine. Das hätten Sie nicht gedacht, was? Und der Kaffee ist garantiert frisch.«
Sie reichte Beatrice die Tasse, wobei Margot jede Bewegung mit kritischem Blick verfolgte. »Das wird Ihnen vielleicht die Kopfschmerzen nehmen, aber garantiert auch den Schlaf rauben. Koffein ist ein Aufputschmittel, aber was Sie jetzt brauchen, ist tiefer und erholsamer Schlaf«, sagte sie und machte ein pikiertes Gesicht, als Beatrice ihren Belehrungen keine Beachtung schenkte und das pechschwarze Gebräu in zwei Schlucken wegtrank.
»Ich werde heute Nacht wieder in meinem eigenen Bett schlafen«, verkündete sie anschließend. »Im Übrigen habe ich kurzfristig einen Termin morgen früh beim Zahnarzt bekommen. Ich muss zeitig aufstehen, was mir schwer genug fallen wird, aber es muss sein. Ich möchte Sie auf keinen Fall stören.«
»Wenn Sie unbedingt nach Hause möchten, werde ich Sie selbstverständlich nicht daran hindern, auch wenn ich nicht gerade glücklich bin über diese Entscheidung«, bedauerte Doris.
»Nicht gerade glücklich?« rief Margot entsetzt. »Wenn Sie jetzt alleine nach Hause gehen, können Sie Ihren Kopf auch gleich in der Toilette versenken.« Sie räusperte sich verlegen, als sie Doris‘ tadelnden Blick bemerkte und fügte rasch hinzu: »Ich mache mir doch nur Sorgen. Aber wenn Sie schon so unvernünftig sein wollen, dann sollte heute Nacht wenigstens einer von uns bei Ihnen bleiben.« Sie sah Lothar an. »Was meinen Sie dazu?«
»Um Gottes willen!«, wehrte Beatrice erschrocken ab und erhob sich eilig. »Ich möchte alleine sein und zur Ruhe kommen. In meinem Kopf hämmert es unablässig, und je leidenschaftlicher Sie diskutieren, umso schlimmer wird es.«
Doris bemühte sich erst gar nicht, ihre Hilfe anzubieten, sondern sah wie die anderen wortlos zu, wie Beatrice in ihrem leuchtend gelben Morgenmantel den Raum verließ. Nur Margot versuchte noch einmal, sie umzustimmen. »So bleiben Sie doch wenigstens bis morgen früh hier.«
Doch nichts half. Zehn Minuten später steckte Beatrice ihren Kopf durch die Tür und sagte: »Auf Wiedersehen.«
Niemand bot ihr an, sie nach Hause zu begleiten, und keiner versprach, am nächsten Morgen nach ihr zu sehen. Lothar saß in sich zusammengesunken da und kämpfte mit den Tränen.
Zunächst herrschte noch Stille, dann begann ein Räuspern und Seufzen, doch es folgten keine Bemerkungen über den plötzlichen Aufbruch und auch nicht darüber, dass Beatrice offenbar keinen Anlass gesehen hatte, sich bei ihren Freunden zu bedanken.
Читать дальше