Evi kam als Letzte und nahm ihren Mantel in Empfang, den Doris bereits vom Bügel genommen hatte.
»Evi, Ihr Geruchssinn hat Sie auch nicht getäuscht? Ich meine, das Parfüm ist tatsächlich der Duftstoff einer Appretur und kein Eau de Parfum?«
Die Schneiderin lachte und knöpfte ihren Mantel zu. »Beatrice hat offenbar noch nie ein Parfum benutzt. Was auf dem Papier kaum noch wahrzunehmen ist, stammt von einem Wäschepflegemittel. Hundertprozentig.«
»Aber könnte es nicht auch ein Waschpulver sein oder ein Weichspüler?«
»Nein. Ich kenne sowohl alle Waschmittel als auch sämtliche Weichspüler, die es hierzulande auf dem Markt gibt, da ich ständig die Marken wechsle. Sie riechen ganz anders, meist süßlich-blumig und sehr intensiv, doch der wenn auch kaum noch wahrnehmbare Duft auf dem Papier erinnert mich an Moschus, was sehr ungewöhnlich ist für eine gewöhnliche Wäschestärke. Aus unserem Land stammt sie jedenfalls nicht.«
Doris machte hm und kräuselte die Stirn. »Gehört Charlotte Backhaus nicht auch zu Ihren Kundinnen?«
»Oh, das ist schon lange her. Ich befasse mich ja nur noch selten mit Auftragsarbeiten. Höchstens, wenn es sich um etwas Besonderes handelt.«
»Um so etwas wie diesen todschicken Wollmantel, den ich schon seit langem an Ihnen bewundere?«
»Ersparen Sie sich das Gesäusel, Doris. Ich weiß auch so, worauf Sie hinauswollen. Ich soll Charlotte Backhaus einen Besuch abstatten und ihr einreden, dass sie dringend einen neuen Mantel braucht. Und ganz nebenbei finde ich heraus, ob sie ausländische Wäschestärke verwendet, richtig?«
»Absolut richtig.«
»Und wie soll ich das anstellen?«
»Keine Ahnung, aber ich bin sicher, Sie finden einen Weg.«
*
Nachdem alle gegangen waren, ging Doris ins erste Stockwerk hinauf und klopfte leise an Beatrices Zimmertür.
»Kommen Sie nur herein, ich habe Sie schon erwartet.«
Doris sah als Erstes den gelben Seidenmantel auf dem Boden liegen. Sie hob ihn auf und legte ihn über die Lehne eines kleinen Stuhls im Biedermeierstil. Beatrice lag ausgestreckt im Bett, die Decke bis zur Brust gezogen. Wie so oft nestelte sie am Verband, der schon ein wenig schmutzig geworden war.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Doris und ging auf das Bett zu.
»Meine Nase schmerzt, mein Kopf tut weh, in meinen Ohren pfeift es, und was meine Augen betrifft, so habe ich das Gefühl, als seien die blauen Ringe darum herum so dick wie Fahrradschläuche. Kurz und gut: Es geht mir blendend.«
Sie lachte und verzog sogleich ihr Gesicht, weil offenbar ein neuer Schmerz sie durchzuckt hatte.
»Sie brauchen noch viel Ruhe und ein gutes Schmerzmittel. Hat man Ihnen nichts mitgegeben?«
»Danke für Ihre Fürsorge«, sagte Beatrice. »Aber Sie sind nicht deswegen gekommen, oder?«
Doris zog den Stuhl heran und setzte sich. »Nun, ich wollte Ihnen sagen, dass wir alle ein wenig enttäuscht sind, vor allem aber Lothar scheint sehr traurig zu sein, weil er glaubt, Sie vertrauten uns nicht. Und Sie haben umgekehrt nicht gerade dazu beigetragen, mein Vertrauen in Sie zu bestärken, denn Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Die Geschichte ist nicht frei erfunden, das heißt, alles, was im Buch steht, ist bis auf Ihren eigenen Selbstmord wirklich so geschehen. Cornelius ist tot und nicht einfach verschwunden, und Sie hatten doch ein Kind, aber es ist ebenfalls tot, gestorben bei der Entführung. War es so?«
Beatrice antwortete nicht, sondern zupfte an den Pflasterstreifen, ohne Doris dabei anzusehen.
»Warum haben Sie das Buch geschrieben, wenn es Ihnen so schwer fällt, darüber zu reden?«, versuchte Doris es mit einer direkten Frage.
»Genau deswegen habe ich es ja geschrieben«, platzte es aus Beatrice heraus. »Ich wollte darüber reden, aber niemand sollte mich dabei ansehen können. Dass ich auch Orte und Namen verändert habe, war anscheinend nicht anonym genug.«
»Weil die Ereignisse dieselben blieben. Und die waren außergewöhnlich. Eleonore musste sofort begriffen haben, um was es sich handelte. Damit ist sie anscheinend nicht fertiggeworden.«
»Das ist mir doch so was von egal.«
»Sagen Sie mir die Wahrheit, Beatrice. Was wollte Eleonore?«
»Vielleicht mit mir abrechnen. Weil ich die Geschichte aufgeschrieben habe und veröffentlichen ließ.«
»Hm. Aber wieso haben Sie uns darüber so lange im Dunkeln gelassen? Während wir rätselten und eine Theorie nach der anderen aufstellten, verheimlichten Sie uns die Wahrheit über Ihr Buch. Wir fühlen uns getäuscht.«
»Mein Gott. Es war mir peinlich.«
»Sicher, das verstehe ich. Aber Sie können uns vertrauen. Niemand wird etwas davon nach außen tragen, das sollten Sie eigentlich wissen.«
Doris erwartete keine Antwort und beließ es dabei. Sie hatte sich Klarheit verschafft und hoffte, dass Beatrice dieses Mal die Wahrheit gesagt hatte. »Verraten Sie mir nur noch eins. Warum haben Sie Ihren eigenen Tod als Ende gewählt?«
»Weil ich gestorben bin. Innerlich, verstehen Sie?«
Doris nickte und schenkte der Frau mit dem Nasenverband ein freundliches Lächeln. »Ja, ich denke schon.«
»Ich frage mich, wie Eleonore an mein Buch gekommen ist«, sagte Beatrice nach einer Weile.
»Was soll daran so schwierig sein?«, meinte Doris. »Sie geht in eine Buchhandlung, stöbert umher und bekommt das Buch in die Hand, auf dem Ihr Name prangt. Natürlich wird sie es kaufen und aufmerksam lesen. Was Sie insbesondere über ihren Bruder schreiben, kann sie Ihnen, obgleich es die Wahrheit ist, natürlich nicht durchgehen lassen und beschließt, sich an Ihnen zu rächen. Der Brief dagegen ist nicht von ihr, da gebe ich Reinhold recht. Und schon gar nicht von der kleinen Backhaus, davon bin ich inzwischen auch überzeugt.«
Sie überlegte, ob sie es erwähnen sollte, aber dann entschied sie sich dafür. »Wussten Sie, dass Barbara adoptiert wurde?«
»Adoptiert?« Beatrice richtete sich ein wenig auf und machte ein überraschtes Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung. Weiß sie davon?«
»Ich weiß nicht. Hat sie darüber nie etwas gesagt?«
»Nein, nie.«
»Die Adoption könnte ein wichtiger Ansatzpunkt sein und bringt mich auf eine Idee«, sagte Doris stirnrunzelnd. »Reinhold sagte doch, dass ihre Eltern, falls sie das Buch gelesen haben, das stärkste Motiv hätten. Immerhin geht es um ein sexuelles Verhältnis zwischen Geschwistern. Darüber hinaus ist er in Deutschland strafbar. Für Hortensius und Charlotte Backhaus, er Pfarrer und sie fromme und ergebene Ehefrau, dürfte es ein Unding sein, dass ausgerechnet bei der Autorin dieses unerhörten Buches ihre liebliche Tochter ein und aus geht. Ihr den Umgang zu verbieten, würde eine Menge unangenehmer Fragen seitens des Kindes aufwerfen, auf die es keine vernünftigen Antworten gäbe, vorausgesetzt natürlich, man wollte ihr den Grund verschweigen. Wie ich schon sagte, ist Charlotte eine ausgesprochen gläubige Frau. Sicher würde sie sehr empfindlich reagieren, sollte ihre, ich nenne es mal göttliche Ordnung, gestört werden, denn Barbara ist ein Geschenk Gottes an sie.«
»Sagt sie das?«
»Oh ja. Als Barbara noch sehr klein war, hat Charlotte sie im Dorf umhergezeigt und im Beisein der Leute immer wieder Gott für die große Gnade gedankt, ihr, die keine Kinder bekommen konnte, doch noch ein Kind geschenkt zu haben. Sie wurde deswegen ziemlich belächelt. Als die Kleine heranwuchs, legte sich ihre Verzückung. Anscheinend hatte der Erziehungsalltag zu einer gewissen Ernüchterung beigetragen. Dennoch ist Barbara ihr Ein und Alles, und ich bin sicher, dass sie sich wie eine Löwin jedem in den Weg stellen würde, der versuchen sollte, sie ihr wegzunehmen.
»Meinen Sie, ich sollte den Kontakt zu Barbara abbrechen?«
»Tun Sie das bloß nicht. Dann müssten Sie ihr nämlich erklären, warum. Und Sie müssten Mänzelhausen sehr wahrscheinlich den Rücken kehren, um das arme Kind nicht noch mehr zu verstören.«
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