»Und die Frau?«
»Ach ja. Sie stand am Friedhofstor, als die Beisetzung beendet war. Selbstverständlich hielt ich an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie nickte nur und verschwand. Das war alles.«
»Wie sah sie aus?«, fragte Evi.
»Sie war ausgesprochen attraktiv. Ziemlich groß und sehr schlank. Darin ähnelte sie Ihnen, Beatrice. Sie trug einen hübschen Hut, in der heutigen Zeit leider eine Seltenheit bei Frauen.«
»Und wie alt war sie?«
»Vielleicht 30, auf keinen Fall älter.«
»Das ist ja alles gut und schön. Aber dieser Huss ist im Moment nicht unser Problem und erst recht nicht sein Bademantel und auch nicht die Verrückte mit Hut.« Herbert hörte sich an, als würde ihm gleich die Hutschnur platzen. »Wir sitzen hier seit über zwei Stunden und sind noch keinen Schritt weiter. Totengräber hat recht, wir drehen uns im Kreis.«
Doris fiel auf, dass Beatrice ganz still geworden war. Sie spielte mit dem Gürtel ihres Seidenmantels und sah niemanden an.
»Beatrice, bitte. Wir brauchen jede Information, denn alles könnte wichtig sein. Sie müssen doch irgendetwas wissen!«
»Wenn Sie damit Eleonore meinen, kann ich Ihnen wirklich nicht viel mehr sagen. Als ich sie zum letzten Mal sah, arbeitete sie als Lehrerin. Sie unterrichtete damals Sport und irgendeine Fremdsprache. Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Sport?«, wiederholte Herbert und nickte wissend. »Deswegen kann sie so zuhauen.«
»Und an welcher Schule unterrichtete sie?«
»Hm. Lassen Sie mich nachdenken. Ich glaube, sie hieß »Laurenzio–Schule«. In Offtenheim am Rhein.«
»In Offtenheim? Da, wo dieser Huss begraben wurde?«
»Verzeihen Sie, Doris«, unterbrach Reinhold. »Er wurde beigesetzt, vielmehr seine Urne und nicht begraben.«
»Danke, dass Sie uns darauf aufmerksam machen«, erwiderte sie lächelnd. »Schon wieder ein Zufall. Hm. Dann haben Sie dort vielleicht auch gelebt? Mit Ihrem Mann? Wann war das? Könnte sie noch dort sein und vielleicht eine Familie haben?«
»Ja, wir haben alle dort gelebt«, antwortete Beatrice, »aber das ist schon lange her. Nach meiner Scheidung hatte ich den Kontakt zu ihr abgebrochen und die Stadt verlassen. Eine eigene Familie? Warum nicht. Sie war damals noch jung, ungefähr in meinem Alter. Cornelius hatte sonst keine Geschwister mehr, und die Eltern müssten jetzt um die 70 sein, falls sie überhaupt noch leben.«
»Beatrice, was ist zwischen Ihnen beiden passiert, dass sie so wütend auf Sie war?« Die Ungeduld schien nun auch Reinhold erfasst zu haben. Er richtete sich auf und rückte dicht an sie heran. »Herrje, nun reden Sie schon!«
Beatrice seufzte und schloss die Augen. »Es ist eine sehr, sehr persönliche und alles andere als alltägliche Angelegenheit«, begann sie zögernd. »Es ist etwas, über das ich noch nie mit einem Menschen geredet habe, selbst mit meinem Vater nicht, dem einzigen Menschen, der mir damals noch geblieben war. Er dachte, ich habe Cornelius verlassen, weil er mich mit einer anderen Frau betrogen hatte, und das stimmte auch, doch er wusste nicht, mit welcher Frau. Das wussten nur Cornelius, Eleonore und ich.«
»Welche Frau, Beatrice?« Reinhold bohrte die Frage förmlich in sie hinein.
»Also schön«, gab sie sich endlich geschlagen. »Cornelius hat vor und besonders während unserer Ehe mit seiner Schwester geschlafen. Mit Eleonore.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Doch Herbert hatte seine Sprache schnell wiedergefunden. Mit beiden Händen schlug er auf seine Schenkel und funkelte Beatrice an. »Ich hab’s die ganze Zeit geahnt. Dein komischer Roman handelt von dir selbst!«
Doris bezweifelte, dass Herberts Geistesblitz seiner Intuition zu verdanken war, sondern vielmehr seinem Ärger über Beatrice, die er vom ersten Augenblick an nicht leiden konnte.
»Ich war gleich skeptisch«, sagte er. »Du hast uns belogen, Schreiberin.«
»Spielen Sie sich doch nicht so auf«, fauchte Beatrice. »Mit so was geht man ja nicht gerade von Tür zu Tür, um es jedem auf die Nase zu binden.«
»Nein, man schreibt gleich ein Buch darüber.«
»Ach lassen Sie mich doch in Ruhe.«
»Mit Vergnügen. Ich weiß ja nicht, wie’s euch geht, aber ich will jetzt nach Hause. Falls Gnädigste vielleicht noch etwas loswerden will von ihrem Familiendrama, kann sie ja einen neuen Termin machen. Bis dahin will ich nichts mehr davon hören.«
Er stand auf und nickte Margot zu, die ihm beide Hände entgegenstreckte, damit er sie vom Sofa hochzog. »Verdammt, ich bin völlig steif vom langen Sitzen«, schimpfte sie. »Ihre Schuld, Beatrice. Wenn Sie Ihren Mund gleich aufgemacht hätten, wären wir vielleicht schon einen Schritt weitergekommen und hätten konkrete Aufgaben verteilen können. Vorausgesetzt, Sie sind an unserer Hilfe überhaupt noch interessiert.«
»Sie alle waren es doch, die sich regelrecht aufgedrängt haben«, verteidigte sich Beatrice mit scharfer Stimme und richtete einen Zeigefinger auf Margot. »Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, wäre es gar nicht dazu gekommen.«
»Wie bitte?« Margot schnaubte vor Ärger. »Sie geben mir die Schuld, weil ich Sie gefunden habe?«
»Nein, nein, so hat sie das sicher nicht gemeint«, rief Doris alarmiert, doch Margot wollte sich nicht beschwichtigen lassen. Mit erhobener Faust ging sie auf Beatrice los, aber mit einem Trick konnte die Vorsitzende den Angriff gerade noch verhindern. Sie riss die Champagnerflasche aus dem Eiswasser und drückte sie Margot in die Hand. »Trinken Sie! Es ist die Letzte!«
Margot packte zu und setzte die Flasche an. Ohne einmal abzusetzen, rann gut ein halber Liter Champagner durch die Kehle von Klöbelschuhs Frau. Als aus ihren Nasenlöchern Kohlensäure zischte, nieste sie so heftig, dass alle auseinanderstoben und Taschentücher auf ihre Gesichter pressten.
»Auch das ist Ihre Schuld«, schniefte sie, während vom Kinn Champagnerreste in ihren Ausschnitt tropften. Doris hatte in den Polsterritzen ihres Sofas ein zerknülltes, braun-gelbes Staubtuch entdeckt und reichte es Margot, doch die zog es vor, ihr Gesicht mit den Ärmeln ihrer gestärkten Bluse abzutrocknen.
»Der Fall wäre längst geklärt, Beatrice, wenn Sie gleich die Polizei hinzugezogen hätten«, sagte Reinhold vorwurfsvoll und faltete sein Taschentuch zusammen. »Dann wäre Eleonore bereits ausfindig gemacht und der ominöse Briefeschreiber vielleicht ebenfalls schon entlarvt.«
»Sie will aber nicht zur Polizei gehen«, bellte Lothar dem Bestatter ins Gesicht, doch der winkte nur ab und ging hinaus.
»Na dann eben nicht. Wenn der WC-Mörder auftaucht, kann sie ja kurz anrufen«, schlug Herbert vor und marschierte mit seiner Frau ebenfalls hinaus in die Halle, wo Reinhold bereits im Mantel dastand und auf die Verabschiedung durch die Vorsitzende wartete. Doch diese musste sich noch um Lothar kümmern, der sich wieder auf seinem Platz gesetzt hatte und auf ein Zeichen der Frau mit dem Nasenverband zu hoffen schien, die er trotz aller Enttäuschung über ihr Misstrauen so sehr verehrte. Doch sie sah ihn nicht einmal an. Sie erhob sich und verließ ohne ein Wort den Raum. Evi war bis zum Schluss sitzengeblieben und leckte an ihren klebrigen Fingern. »Darf ich mir im Bad die Hände waschen?«
»Natürlich. Sie wissen ja, wo es ist.« Doris begleitete Lothar hinaus, der nur mit den Schultern zuckte. »Geben Sie ihr Zeit«, sagte sie und drückte sanft seinen Arm.
»Wie viel denn noch?« Seine Traurigkeit rührte Doris fast zu Tränen, doch sie konnte nichts für ihn tun.
Sie ging vor bis zur Haustür, öffnete sie und gab jedem die Hand, bevor sie hinaus in die Kälte traten.
»Ich darf doch auf ein baldiges Wiedersehen hoffen?«, flötete Reinhold und deutete einen Handkuss an.
»Sie dürfen«, lachte Doris, »aber nur, wenn Sie sich nicht wieder so zickig benehmen.«
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