Eiligst verließen alle anwesenden Lehrer das Konferenzzimmer. Erst draußen, auf dem Weg zu den Autos, begann die zu erwartende Diskussion.
»Was denkt der sich eigentlich?«, hörte man die empörten Ausrufe.
»So kann er doch nicht mit uns umgehen!« und »Das macht der doch immer so.«
So und so ähnlich machte jeder seinem Unmut Luft. Susanne stank es wieder einmal: »Und warum habt ihr das nicht eben da drin gesagt?«
»Du hast ja auch nichts gesagt«, verteidigte sich Melanie Jacoby, die Klassenlehrerin der anderen vierten Klasse an der Hauptstelle der Schule.
»Aus gutem Grund«, erwiderte Susanne. »Ich hab mir schon zu oft den Mund verbrannt und ihr habt mich im Regen stehen lassen oder seid mir sogar in den Rücken gefallen. Außerdem, was soll ich dagegen sagen? Ich habe keine Kinder und mein Mann wird angesichts der Sachlage mitkommen müssen. Da fehlen mir ja wohl alle guten Argumente, oder?«
Damit verabschiedete sie sich kurzerhand, setzte sich in ihr Auto und fuhr nach Hause. Mit den meisten der Kollegen hatte sie sowieso nicht viel zu tun, denn sie unterrichtete an der › Blumenbergschule‹ in Webenheim, der Dependance der Blieskasteler Grundschule.
Nachdem die Schülerzahlen massiv gesunken waren, erfolgten im Saarland vor einigen Jahren zahlreiche Schulzusammenlegungen. In manchen Fällen bekam eine Schule eine sogenannte Dependance. Das ist der vornehme Ausdruck einer Zweigstelle oder Filiale, der die Frankreichnähe des Saarlandes dokumentiert. So war die › Blumenbergschule‹ in Webenheim der ›Schwarzweiherschule‹ in Blieskastel, die teilweise zweizügig lief, unterstellt worden. Da die Dependance ausschließlich von ortsansässigen Kindern besucht wurde, gab es dort nur insgesamt vier Klassen. Susanne hatte es somit nur mit drei weiteren Kollegen und der Konrektorin, Anita Müller-Thiele zu tun. Neben ihr und Heidi Wagenknecht unterrichteten dort noch Markus Kesper, ein Casanova, der sehr von sich überzeugt war, und die Personalrätin der Schule, Brigitte Sommer-Thes. Von der Hauptstelle kamen für einige Wochenstunden die Referendarin Iris Schneider und die zuweilen etwas ›übermobile‹ Kraft, Christine Marcreiter, nach Webenheim. Alle anderen Kollegen aus Blieskastel traf Susanne nur auf Konferenzen und verschiedenen schulischen Veranstaltungen. Für ihren Geschmack war das mehr als genug.
Mordgelüste
Zu Hause ließ Susanne ihre Wut am Abendessen aus. Der Salat wurde nicht gewaschen, sondern ersäuft, die Kräuter dafür massakriert statt gehackt. Dabei schimpfte sie lautstark vor sich hin.
»Was ist denn hier los?« Ihr Mann Hannes kam soeben zur Haustür herein und streckte ob der bizarren Geräusche vorsichtig den Kopf durch die Küchentür.
»Was los ist?« Susanne konnte sich immer noch nicht beruhigen. »Ich hatte Dienstbesprechung, das ist los.«
Ihr Mann nahm es in typisch Hannes`scher Manier: »Das ist doch kein Grund, mein Abendessen zu ermorden.«
»Doch«, kam es zurück, »ich kann mir dabei so schön meinen Rektor vorstellen. Der ist genauso sensibel wie dieser Salatkopf.«
Während sie noch auf das Schneidebrett eindrosch, erzählte sie von der sehr einseitigen Konferenz.
»Ach!«, jetzt war auch Hannes verstimmt. »Und über mich bestimmt er gleich mit?«
»Ganz so ist das nicht«, schränkte seine bessere Hälfte ein. »Ich soll nur die Busfahrt organisieren. Und da dachte ich, dann kannst auch du fahren. Erstens macht es die Sache für mich erträglicher. Zweitens geht es in den Schwarzwald, deine Heimat.«
»Ich weiß ja gar nicht, ob ich Zeit habe.« Hannes war, wie Susanne bereits befürchtet hatte, nicht begeistert.
Sie entgegnete ungerührt: »Doch, hast du. Ich habe gleich im Kalender nachgesehen. An dem Wochenende liegt nichts an. Ich könnte dann das Doppelzimmer mit dir teilen und du würdest das Geld verdienen, das ich dafür zahlen muss.«
Susanne beförderte die kleingeschnetzelten Salatfetzen in die bereitstehende Schüssel, sodass das Dressing nur so durch die Küche spritzte.
»Na, mal sehen«, meinte Hannes mit einem letzten Blick auf sein bedauernswertes Abendessen. Dann verließ er vorsichtshalber den akuten Gefahrenbereich. Die Aussicht, zwei Tage mit so vielen Lehrern verbringen zu müssen, konnte ihm wirklich keine Begeisterungsstürme entlocken. Die Schulmeisterei, die unter dieser Spezies herrschte, kannte er nur zu gut. Im Normalfall drückte er sich gern, wenn ihm Schulfahrten angeboten wurden. Viele der Lehrer konnten alles besser, wussten alles besser und hielten einen Busfahrer sowieso für geistig minderbemittelt.
»Wann gibt’s denn jetzt Essen?«, rief er sicherheitshalber lieber erst aus dem Treppenhaus.
Susanne seufzte. Wie konnte man bei diesem Ärgernis nur an Essen denken? Ihr jedenfalls war der Appetit vergangen.
Alltagsgeschäfte
Noch immer schlecht gelaunt betrat Susanne am nächsten Morgen das Schulhaus der Dependance in Webenheim. Das Wissen, dass heute zusätzlich die ungeliebte Nachmittagsbetreuung auf ihrem Stundenplan stand, zog sie obendrein runter. Kam sie wieder einmal nicht vor halb vier nach Hause …
Galt der Lehrerberuf in der Öffentlichkeit als gut bezahlte Halbtagsstelle mit dreizehn Wochen Ferien, war die Realität längst eine andere. In den letzten Jahren kamen immer mehr Aufgaben und Pflichten für die Lehrer hinzu. Nur hatte man vergessen, das Gehalt entsprechend anzupassen. Im Gegenteil: Durch Aufstockung der Wochenstundenzahl sowie Kürzungen der Beihilfe auf Krankenkassenniveau und Kostendämpfungspauschale hatte es eher eine aktive Gehaltskürzung gegeben. Außerdem kam durch die freiwillige Ganztagsschule auch noch die Betreuung der Hausaufgaben am Nachmittag zu den Vormittagsstunden hinzu. Im Prinzip entsprach diese einer bloßen Kinderaufbewahrung, denn man durfte die Hausarbeiten lediglich auf ihre Vollständigkeit hin kontrollieren. Erklärungen waren nicht gewünscht, da die Kinder, die diese Betreuung nutzten, ansonsten Vorteile gegenüber denen hatten, die nach dem Unterricht nach Hause durften. Dennoch waren für diese Kontrollregelungen Lehrerstunden vorgesehen. Nein, Lehrer zu sein, machte keinen Spaß mehr. Dieses Resümee zog Susanne mittlerweile.
Ähnlich schien es auch ihre Kollegin Heidi Wagenknecht zu sehen, die sie auf der Treppe zum Lehrerzimmer traf. Die zierliche Dunkelhaarige sah blass und unglücklich aus.
»Morgen, Heidi, was ist los? Geht’s dir nicht gut?«, begrüßte Susanne die Kollegin, die seit Beginn dieses Schuljahres die dritte Klasse betreute.
»Morgen, Susanne, nein, ich fühle mich nicht so gut. Aber es geht schon.« Heidi stieg die Treppe weiter hoch.
›Richtig‹, fiel Susanne ein. Heidi hatte ja immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Dr. Küchenmeister hatte das Kollegium ja noch Ende letzten Schuljahres genau darüber informiert, dass eine neue Kollegin käme, die öfter mal krank sei. Einen Burnout hätte sie gehabt. Zwar wusste Susanne, was ein Burnout war, nur vorstellen konnte sie sich darunter nichts Genaues. Aber so wie ihr Rektor das Wort ›Erschöpfungszustand‹ ausgesprochen hatte, hörte es sich an, als sei die neue Kollegin einfach nur stinkfaul.
Diesen Eindruck teilte Susanne gar nicht. Was deren Klasse anging, schätzte sie Heidi sogar als besonders engagiert ein. So beteiligte diese sich öfter an Wettbewerben, die für Schulklassen ausgeschrieben wurden. Während diese Aktionen Susanne oftmals als zu aufwändig empfand, hatten Heidis Schüler schon den einen oder anderen Preis dabei gewonnen. Darüber schwieg Dr. Küchenmeister aber in der Regel. Einen Flohmarkt, den die Kollegin mit ihrer Klasse organisierte, hatte er sogar regelrecht boykottiert. Dabei wollte Heidi damit nur die Klassenkasse aufbessern, denn im Lehrplan standen, neben der traditionellen Saarlandfahrt, noch andere kostspielige Exkursionen. Aber Dr. Küchenmeister ignorierte gern die Aktivitäten seiner Dependance. Vertrat er doch die Meinung, sie müsse als Brennpunktschule einen schlechten Ruf haben.
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