»Und wenn es doch die da ist«, sagte ich mir und lächelte der Dame zu, die zu mir hersah.
Aber sie hatte weder einen kleinen Hund mit gräulich gelocktem Fell bei sich, noch ein Buch in der Hand.
»Womöglich irrst du dich und es kommt gleich einer, der auch sie umarmt. Wahrscheinlich wird die Richtige jeden Augenblick durch diese Tür treten und freudestrahlend auf dich zukommen.«
Ich setzte mich an einen der wenigen freien Tische, so dass ich die Tür im Auge behalten konnte, und beschloss, mir einen Schoppen Silvaner zu bestellen.
»Entschuldigung, sind sie der Herr, der mit einer brünetten Dame verabredet ist?« fragte mich jemand.
»Sind sie das? Ich freue mich, dass sie gekommen sind«, sagte ich zu der charmanten Frau und starrte auf ihre hellblonden Haare.
»Nein, nein, ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, aber ich bin nicht diese Dame. Ich bin die neue Besitzerin dieses Lokals. Die Frau, die sie hier treffen wollten, hat mir ein Foto von ihnen gezeigt, damit ich weiß, wen ich ansprechen soll«, entgegnete sie.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich einigermaßen irritiert, »was hat das mit ihnen zu tun?«
»Mit mir hat das eigentlich nichts zu tun. Diese Frau bat mich lediglich, ihnen mitzuteilen, dass sie es sich anders überlegt hat und ihnen dieses Buch und diese Nachricht zu übergeben.«
Hoffmann von Fallersleben, Gedichte , las ich auf dem Einband.
Ich faltete das Blatt Papier auseinander und las: »Tut mir leid, dass sie umsonst gekommen sind. Der Gedichtband ist für sie, ich kann sowieso nichts damit anfangen.«
»Ich hoffe, keine schlimme Nachricht«, sagte die Besitzerin der Weinstube.
»Keine Sorge«, entgegnete ich und versuchte meine Enttäuschung zu verbergen. »Es hätte schlimmer kommen können.«
»Sind sie ein Freund der Lyrik?« fragte sie mich.
»Wenn ich ehrlich sein soll«, entgegnete ich etwas verlegen, »ich liebe Lyrik.«
»Dann sind wir schon zu zweit«, meinte sie und lächelte mir zu. »Ich veranstalte Freitag in einer Woche in meinem Lokal einen Lyrikabend. Wenn er bei den Gästen gut ankommt, will ich das öfters machen. Wollen sie nicht kommen? Ich würde mich sehr freuen!«
Und ob ich wollte.
»Überlegen sie sich das gut«, scherzte ich, »wahrscheinlich werden sie mich dann nicht mehr los.«
»Vielleicht will ich sie nicht mehr loswerden«, sagte sie und lachte, »einen Lyrikliebhaber wie sie.«
»Von wegen, so eine Frau findet man nicht um die Ecke«, dachte ich. »Liebenswert, klug, gebildet, groß, hellblond, und die weiblichen Rundungen stehen ihr ebenfalls vorzüglich.«
»Eintopf mochte er besonders gern. Zwei Teller hat er davon gegessen, manchmal sogar drei. Du machst den besten Eintopf von ganz München hat er gesagt, und als wir dann umgezogen sind, war es der beste Eintopf von Winterlach. Mein Fritz war ein guter Mann, wenn er noch wäre, müsste ich nicht zu ihnen kommen«, sagte Frau Bregel und legte die Kartoffeln in den Korb. »Aber was rede ich schon wieder, ich halte sie nur ab von ihrer Arbeit.«
»So viel Zeit muss sein«, beruhigte sie der Mann von der Lebensmittelausgabe und reichte ihr einen Bund Karotten. »Kochen sie sich einen schönen Eintopf und machen sie sich keine Gedanken mehr darüber, Frau Bregel.«
»Sie haben ja recht«, entgegnete sie, »aber früher habe ich nie um irgendetwas bitten müssen, und jetzt, als alter Mensch, bin ich auf fremde Hilfe angewiesen. Das ist bitter, glauben sie mir, das ist bitter!«
Die betagte Dame kam seit zwei Jahren zur Tafel, um sich mit Lebensmittel zu versorgen. Ihre Witwenrente reichte vorne und hinten nicht, und von ihrer Tochter war keine Hilfe zu erwarten. Ihr Mann und sie besaßen nie große Reichtümer, aber sie waren zufrieden gewesen, mit dem was sie hatten.
»Fesch siehst du wieder aus!«, sagte sie zu ihm, wenn er am Morgen in seiner blauen Briefträgeruniform vor ihr stand und ihr einen Abschiedskuss auf die Wange drückte, bevor er aus dem Haus ging, und sein Anblick entschädigte sie für das spärliche Gehalt, das er am Monatsende nach Hause brachte. Als er endlich nach langer und gewissenhafter Pflichterfüllung seine Dienstkleidung ablegte, sind sie weggegangen aus München und haben sich eine kleine Wohnung genommen in Winterlach, wo ihre Tochter, ihr einziges Enkelkind und ihr Schwiegersohn, ein gebürtiger Winterlacher, lebten. Die kleine Stadt ist ihr neues Zuhause geworden, wie sie vor Jahren das Zuhause ihrer Tochter geworden war. Sie fühlten sich gut aufgehoben in dem beschaulichen Städtchen, und Herr Bregel erfüllte sich sogar seinen lang gehegten Wunsch nach einem kleinen Stückchen Grün, wo er Gemüse anbauen und Blumen pflanzen konnte, wie seine Mutter es getan hatte und er ihr mit Freude zur Hand gegangen war, als er ein Junge war.
»Mein Schrebergarten wartet!«, rief er jeden Morgen voller Ungeduld am Frühstückstisch und zählte diese und jene Arbeit auf, die unbedingt erledigt werden müsse.
»Arbeite nicht so viel Fritz, morgen ist auch noch ein Tag!«, mahnte ihn dann seine Frau und erinnerte ihn daran, bis zwölf zum Mittagessen zurück zu sein.
»Wenn du etwas Leckeres kochst, bin ich rechtzeitig da«, sagte er lachend und verließ freudestrahlend die Wohnung.
Die Ernte fiel meist so reich aus, dass er seine Freunde mit Salat und Tomaten und allerlei Gesundem, was der Garten hervorbrachte, beschenkte. »Alles Natur, alles Bio«, pflegte er zu sagen und war voller Stolz, wenn sie den vorzüglichen Geschmack seiner Gaben über alle Maßen lobten.
Das Ehepaar Bregel hatte es sich gut eingerichtet in Winterlach. Sie wurden geschätzt als liebenswerte Freunde und gute Nachbarn und bereuten keinen einzigen Tag, aus der Großstadt weggezogen zu sein.
»Wie lange ist es jetzt her Frau Bregel, seit ihr Mann gegangen ist?«, fragte der hilfsbereite Mitarbeiter der Tafel.
»Beinahe acht Jahre, nächstes Jahr im Juni ist sein achter Todestag«, antwortete sie, »ja, ja, kaum zu glauben, schon acht Jahre!«
»Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er so viel arbeitet. Jedes Gräschen hat er ausgerissen, mein Fritz, alles sollte ordentlich sein, da hat er sich nicht dreinreden lassen. Kümmere dich um deinen Haushalt, hat er jedes Mal gesagt, wenn ich ihm helfen wollte, damit hast du genug zu tun. Die Arbeit im Schrebergarten ist meine Aufgabe. Das schaffe ich allein, mach dir keine Sorgen.«
»Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Die viele Arbeit!«, wiederholte sie und nahm ihren Korb.
Eines Tages, als er um eins noch nicht von seinem Gärtchen zurückgekehrt war, zog sie ihre Kochschürze aus, schlüpfte eilig in ihre Pantoffel, die vor ihrer Wohnungstür standen, und machte sich auf den Weg. Zwar kam es vor, dass er sich hin und wieder um ein Viertelstündchen verspätete, aber meistens saß er Punkt zwölf am Tisch und freute sich auf das Mittagessen. Als erstes ging sie zum Gartenhäuschen. Seine Jacke, die er trug, als er das Haus verließ, hing noch am Haken, der an der Innenseite der Tür befestigt war, und auf dem Tisch lag der Beutel mit dem Brot, den sie ihm mitgegeben hatte. Sie rief nach ihm, suchte ihn bei den Gemüsebeeten, sah hinter die Beerenhecke, warf einen Blick hinüber auf das Nachbargrundstück und entdeckte ihn schließlich bei den Rosen. Er lag zwischen zwei karminrot blühenden Sträuchern, die Rosenschere in der einen, einen Rosenzweig in der anderen Hand. Seine starren Augen richteten ihren Blick auf die Rose über ihm, die auf ihn herabblickte in ihrer vollen Blüte und betörenden Schönheit, als wolle sie ihm danken für seine Hingabe und ihn grüßen zum letzten Abschied.
»Sie dürfen sich nicht so grämen«, sagte der besorgte Mann, »sie haben doch keine Schuld, dass alles so gekommen ist.«
»Sie haben ja recht!«, stimmte die alte Frau ihm zu, »sie haben ja recht!«
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