»Sei nicht so streng mit ihm, renovieren ist Strafe genug«, dachte ich und nahm mir vor, ein bisschen früher aufzustehen, sollte er in aller Frühe bei mir klingeln.
»Zwei Tote und mindestens drei Verletzte, was zum Teufel geht in diesen wirren Köpfen vor!«, überfiel mich mein Kollege. »Wenn ich ehrlich bin, mir war nicht wohl heute Morgen in der U-Bahn.«
»Doch nicht schon wieder ein Anschlag?«, fragte ich vorsichtig und merkte, wie ich leicht zu zittern anfing.
»Heute früh, kurz nach sieben.«
»Bei uns?«
»Frankreich, kleines Nest im Süden.«
»Mein Gott, schon wieder Frankreich! Eine Bombe?«
»Messerattacke.«
»Einer dieser Verblendeten, die unsere freiheitlichen Werte für Teufelswerk halten?«
»Vermutlich.«
Diese Terrorangriffe gingen natürlich auch an mir nicht spurlos vorbei. Ich hatte mich in den letzten Monaten schon mehrmals dabei ertappt, wie ich jeden einzelnen, der in die U-Bahn einstieg, mit meinen Augen taxierte und aufgrund seines Aussehens in harmlosen Mitbürger oder potentiellen Attentäter einteilte. Da wurde aus einem schwarzhaarigen jungen Mann mit dunklem Teint schnell ein Bombenleger und aus der Kinderwagen schiebenden Frau mit Kopftuch und Mantel eine Sprengstoffgürtel tragende Terroristin.
»Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen«, sagte mein Kollege.«
»Leicht dahingesagt, aber wenn du morgen wieder an der Stelle vorbeimusst, wo es passiert ist«, entgegnete ich.
»Messer! Messer, die aneinanderschlagen, klirren. Im Paket sind Messer. Das konspirative Zeichen auf dem Aufkleber. Der arabisch klingende Name«: diese Gedanken eroberten nach und nach mein Gehirn und fügten sich zu einem Ganzen, das mich wieder zu zittern beginnen ließ. Ich saß in der hintersten Reihe der U-Bahn, und als der bärtige Mann im Businessanzug und mit Laptoptasche in der Hand mich fragte, ob der Platz neben mir noch frei sei, sah ich ihn verstört an, sprang auf, lief nach vorne und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Ich war froh, bald aussteigen zu können.
Das Paket musste weg. Ich würde es ihm vor die Tür stellen. Aber wenn er tatsächlich Böses im Schilde führte. Noch bevor ich meine Pumps auszog, begutachtete ich es erneut, neigte es zu allen Seiten, befand es schließlich doch als harmlos und bezeichnete mich als hysterische Kuh, die ihre übertriebene Ängstlichkeit gefälligst in den Griff zu bekommen habe.
»Heute Abend holt er es bestimmt«, sagte ich mir, »dann hast du nichts mehr zu tun mit dieser Sache.«
Er holte es nicht an diesem Abend und auch nicht am nächsten. Ich gab ihm noch genau einen Tag, dann würde es vor seiner Tür landen. Was immer auch da drin sein mochte, es schien ihn sowieso nicht zu interessieren.
Ich wartete auf den Lift. Das Paket hatte ich kurz zuvor neben seine Tür gelegt, nachrichtlos, ärgerlich wie ich war. Freitag, sechsuhrdreißig, Hauptbahnhof! Diese drei Worte in gebrochenem Deutsch genügten bereits, um mich wieder in Aufruhr zu versetzen. Ich drehte mich zur Seite und sah zwei junge Männer mit Rucksäcken die Treppe hinunterrennen, nun einen arabisch klingenden Wortschwall nach sich ziehend.
»Schon Freitag, sechsuhrdreißig, Rushhour!«, stieß ich entsetzt aus.
»Kann ich helfen?«, fragte die Nachbarin, die gerade auf mich zukam.
»Äh, es ist!«, begann ich, besann mich aber glücklicherweise eines Bessren und sagte: »Alles o. k., danke, habe mich nur darüber aufgeregt, dass ich am Freitag in aller Frühe zum Bahnhof muss.
»Ach so, kann ich verstehen, und gute Reise«, entgegnete sie.
Freitag, das war in zwei Tagen. Ich hatte also noch genau heute und morgen Zeit, die Polizei zu informieren und sie über die Zusammenhänge zwischen dem mysteriösen Paket, Amit Pal, den beiden Männern im Treppenhaus und den Wortfetzen, die ich aufgeschnappte hatte, aufzuklären. Ich hoffte, sie würden daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Mehr konnten sie nicht von mir verlangen.
Ich nahm mir vor, gleich in der Mittagspause anzurufen. Es war Abend geworden, und ich hatte die Polizei immer noch nicht verständig. Schließlich konnte ich das auch am Donnerstagmorgen tun, bevor ich ins Büro ging.
»Die sind ja schnell«, sagte ich mir, »wenn es um sowas geht. Ein paar Schwerbewaffnete vor Pals Tür, Waffen und Sprengstoff sicherstellen, Telefonkontakte auswerten, Mitwisser verhören, Untersuchungshaft.«
Am Freitag stand ich um fünf Uhr morgens auf und schaute als erstes auf mein Smartphone. Nachrichten! Nichts Außergewöhnliches. Fünfuhrdreißig: keine neuen Meldungen. Sechs Uhr: alles unauffällig. Zehn Minuten vor halb sieben: mein Magen rebellierte, mir war übel, und ich fing an zu zittern. Ich hatte das ganze Horrorszenario vor Augen. Ich hätte es verhindern können, war Mitwisser, Mittäter, war schuldig. Wie würde ich weiterleben können? Und wenn ich mich doch verhört, Tag und Uhrzeit nicht richtig verstanden hatte. Wenn ich nur etwas missgedeutet hatte. Wenn ich nur ein Opfer meiner lebhaften Fantasie geworden war. Damit tröstete ich mich bis sechsuhrfünfundvierzig. Erst dann wagte ich es, wieder mein Smartphone zu befragen. Hurrican schwächer als erwartet – Florida nicht betroffen, kanadische Außenministerin zu Gast im Kanzleramt, fünfundfünfzigjährige Schwedin bringt Zwillinge auf die Welt, jüdisches Mahnmal beschädigt.
»Nichts Besorgnis erregendes«, dachte ich, »die letzte Meldung natürlich ausgenommen. Eine Schande!«
Nichts war passiert, kein Anschlag, keine Messerattacke, alles friedlich, nichts Erschütterndes. Ich atmete tief durch. Das hatte ich übersehen: Betrieb aller U-Bahnen in Richtung Hauptbahnhof eingestellt. Hauptbahnhof! Auf einen Schlag wurde ich wieder unruhig. Systemfehler! Damit konnte ich diese Sache wieder dorthin rücken, wo sie hingehörte, nämlich in die Rubrik Verkehrsprobleme.
Ich beschloss, mich krank zu melden. Ins Büro würde ich es ohnehin nicht mehr rechtzeitig schaffen.
»Magenverstimmung, wahrscheinlich etwas Verdorbenes gegessen«, verständigte ich meinen Vorgesetzten und dankte dem Himmel, der mich davor bewahrt hatte, eine große Dummheit zu machen.
Diesen Tag hatte ich mir selbst verdorben. Ich war ja offiziell krank, konnte mich deshalb nirgends blicken lassen. Zum Gemüsehändler um die Ecke, das wäre noch erklärbar, eine leichte Gemüsebrühe bei verdorbenem Magen hat noch niemandem geschadet.
»Schönen guten Tag«, begrüßte mich ein sympathischer junger Mann, als ich gerade dabei war, meine gefüllte Einkaufstasche auf dem Boden abzustellen.
Der Lift war wahrscheinlich genauso alt wie das Haus und schon ein bisschen »altersmüde«. Das hatte den Vorteil, dass man während des Wartens – bis der Aufzug sich bemühte – dem einen oder anderen Nachbarn begegnete und genügend Zeit blieb, mehr als nur guten Tag oder auf Wiedersehen zu sagen.
»Übrigens, ich heiße Amit, Amit Pal«, sagte er. »Habe es leider bis heute nicht geschafft, mich bei den Nachbarn vorzustellen, neue Arbeitsstelle, viel zu tun, Wohnung, alles neu am Anfang.«
»Aha, Pal, wohl erst eingezogen«, entgegnete ich etwas unfreundlich.
»Vor drei Monaten, aber die meiste Zeit verbringe ich an meinem Arbeitsplatz. Bin noch nicht oft weggegangen am Wochenende, wird schon werden.«
»Sie mussten sicher die Wohnung renovieren«, platzte es aus mir heraus.«
Er sah mich erstaunt an.
»War doch sicher nicht in bestem Zustand«, setzte ich erneut an, »wenn ich zurückdenke, was es bei mir zu tun gab, bis es gemütlich wurde.«
»Tut mir leid für sie, meine Wohnung war top, sogar der Parkettboden im Wohnzimmer war noch tadellos«, entgegnete er.
»Top also«, dachte ich, »kein Werkzeug demzufolge, und wahrscheinlich ist er auch nicht arabischer Herkunft, obwohl, schwarze Haare, dunkle Augen.
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