„Wer kommt jetzt noch mit?“, fragte ich, als wir bereits beinahe am Bahnhof angekommen waren. Ich hatte das Haus ohne ein Wort verlassen, da ich nicht wollte, dass meine Brüder mitbekamen, wohin wir fahren würden.
„Alicia, Julie und Scott.“ Die vier waren beste Freunde und gingen auf die gleiche Schule. Nächstes Jahr würden sie gemeinsam ihren Abschluss machen und dann würde Haven vermutlich Fotografie studieren. Ich vermied es, an diese Zeit zu denken, da Haven vermutlich wegziehen würde und ich ihn so selten sehen würde. „Oh, da sind sie ja schon.“ Mein Blick, der bis gerade eben noch auf den dreckigen Spitzen meiner Schuhe gehaftet hatte, richtete sich nun auf die drei Jugendlichen. Auch aus der Ferne konnte ich entdecken, wer von den Personen wer war, da Julie und Scott seit einigen Monaten nun schon ein Paar waren. Deswegen war es nur logisch, dass es sich bei den beiden Figuren, die an der Wand lehnten und sich küssten, um die beiden handelte. Ich war zwar aus dem Alter raus, indem ich küssen absolut ekelhaft fand, allerdings wollte ich mir diesen Anblick, der mir gerade geboten wurde, auch nicht wirklich antun. Haven ging es wohl ähnlich, da er leicht sein Gesicht verzog und dann ein lautes Pfeifen ausstieß, kaum waren wir in Hörweite. Julie erschreckte sich fürchterlich und stieß Scott von sich. Lachend beobachtete ich, wie Julie sich eine Hand auf ihr Herz legte und Scott sie irritiert anblickte, bevor er zu Haven sah.
„Jo, Haven, man kann auch sanfter auf sich aufmerksam machen“, sagte Scott genervt. „Mein Mädchen hat fast einen Herzinfarkt bekommen.“
„Man kann es auch lassen, seiner Freundin in der Öffentlichkeit die Zunge in den Hals zu stecken“, erwiderte Haven belustigt und umarmte Alicia zur Begrüßung. Das blonde Mädchen küsste meinen besten Freund auf die Wange, bevor sie auch mich in eine feste Umarmung zog.
„Hey, kleine Maus. Schön dich wiederzusehen“, sagte sie lächelnd. Von allen Freunden von Haven hatte ich sie am liebsten. Oft hatte ich gedacht, dass Haven vielleicht in sie verliebt sei, aber beide stritten dies immer ab. Man muss nicht mit jemandem zusammen sein, um ihn zu lieben. Manchmal ist es besser einen guten Freund zu haben als alles anderes , hatte Alicia mal gesagt. Seit dem trug ich dieses Zitat immer mit mir herum.
∞
Die Zugfahrt nach London dauerte etwa vier Stunden und mit jeder Stunde, die verging, bemerkte ich, dass nicht nur ich verdammt aufgeregt war. Es war nicht ganz klar, wie sich vier 17-jährige so auf ein Volksfest freuen konnten, doch sie taten es. Alicia hörte gar nicht auf von ihren hohen Erwartungen und den vergangen Malen, die sie dort war, zu erzählen, während Julie davon schwärmte, dass Scott ihr einen Teddybären schießen würde. Haven dagegen nervte mich damit, mir aufzuzählen, was er alles mit mir machen wollte.
„Ich fahre kein doofes Kettenkarussell mit dir“, jammerte ich noch, als wir bereits aus dem Zug ausstiegen. Meine Hand war mit seiner verflochten, damit wir uns in den Massen am Londoner Bahnhof nicht verloren. „Ich mag die nicht. Die drehen sich viel zu schnell im Kreis.“
„Bist du nicht letztes Jahr im Disneyland mit der Loopingbahn gefahren?“, hakte Haven amüsiert nach und steuerte die Gruppe zu dem Platz, auf dem das Volksfest stattfand. „Das finde ja sogar ich bescheuert.“
Ich rollte mit den Augen. „Loopingbahnen fahren nicht immer die gleiche Bewegung. Es ist nur natürlich, dass man einen Drehwurm kriegt, wenn man sich dauernd im Kreis dreht.“
„Du bist komisch“, murmelte Haven noch, bevor meine Aufmerksamkeit von dem Volksfest beansprucht wurde. Sprachlos blieb ich am Eingang stehen und betrachtete, was sich vor mir erstreckte.
Dies war nicht nur irgendein Volksfest, das es auch im Sommer gab. Nein, es fand stets im Winter statt und es ähnelte eigentlich einem Weihnachtsmarkt. Nur drehte sich nicht alles um Weihnachten. Es gab Fahrgeschäfte, Schießbuden, eine Eisfläche zum Schlittschuhfahren und dutzende Stände, an denen man Süßigkeiten, Getränke, Kerze und vieles mehr kaufen konnte. Für mich – die den Winter vergötterte – war es das Paradies.
„Rubie, komm!“ rief Alicia begeistert aus und zog mich zu dem nächstbesten Fahrgeschäft. Bevor ich es überhaupt realisiert hatte, hatte sie für uns beide bezahlt und schob mich zu einem Wagen. Als ich darin saß und ein Mann unsere Bügel schloss, fiel mein Blick auf Haven, welcher noch neben der Kasse stand und mich breit angrinste. Ich winkte ihm noch einmal zu und dann fuhr unser Wagen auch schon los.
„Es war Havens Idee“, sagte Alicia, als wir noch langsam vor uns her tuckerten. „Ich meine, mit dir hierhin zu fahren. Er hat gesagt, du würdest mal wieder einen spaßigen Tag verdienen.“
„Echt?“ Ich drehte meinen Kopf, sodass mein Haven, der sich gerade mit den anderen Zweien unterhielt, wieder in meinem Blickfeld war.
„Wir haben alle etwas Geld beiseitegelegt, damit wir dich auch ein bisschen einladen können“, fügte sie lächelnd hinzu. Mir schoss das Blut in die Wangen und alles in mir kribbelte. Ich konnte nicht in Worte fassen, wie überwältigt ich gerade war. Es war einer dieser Momente, in denen ich vor Glück weinen könnte. In den letzten Wochen hatte ich oft unter Druck gestanden, da meine Mutter mit meinen Noten nicht gerade zufrieden war und wollte, dass ich auf eine anständige Middle School gehen würde ab nächsten Herbst.
Als jedoch unser Wagen immer schneller wurde und Alicia laut anfing zu kreischen, konnte ich nicht anders, als meine Sorgen wegzulachen. Das half immer noch am besten.
„So jetzt wo Ally sich ausgekreischt hat, können wir doch auch etwas essen, oder?“, fragte Scott schmunzelnd, als wir wenige Minuten später wieder aus dem Fahrgeschäft ausgestiegen waren. Alicia steckte dem Dunkelhaarigen bloß die Zunge heraus und hakte sich bei ihrer Freundin unter.
„Von mir aus gerne“, antwortete Haven, der schon Ausschau nach dem nächsten Stand hielt. Schnell war einer gefunden und Haven wurde der Ausgewählte, der bestellen und das Essen schleppen durfte. Da ich eine gute Freundin war, stellte ich mich zu ihm in die Schlange. „Was möchtest du essen?“
„Pommes“, sagte ich, ohne überhaupt auf die Speisekarte zu blicken. „Mit Mayonnaise, bitte.“
„Soll ich mir eine Portion mit dir teilen? Oder schaffst du das alleine?“
„Haven, ich bin zehn“, sagte ich genervt und blickte ihn mit gehobenen Augenbrauen an. „Ich werde ja wohl eine Portion Pommes essen können.“
Ich konnte es nicht, wie sich herausstellte. Ich hatte am Morgen, bevor Bethany vorbeigekommen war, drei Schalen Müsli gegessen und anscheinend hatten diese immer noch nicht Platz in meinem Magen gemacht. Havens wissenden Blick konnte ich deshalb nicht ausweichen, während er für mich aufaß.
„Dafür gehst du jetzt mit mir aufs Kettenkarussell“, sagte Haven triumphierend und ich seufzte. Er würde das Thema wohl nicht mehr loslassen. Um ehrlich zu sein, war ich erst einmal auf so einem Karussell gewesen und dies mit vier Jahren. Ich konnte mich nicht mehr wirklich erinnern, ob es tatsächlich schlimm gewesen war, aber bis jetzt wollte ich es auch nicht ausprobieren.
„Na gut, aber nicht sofort. Ich möchte vermeiden, mein Essen wieder zu begrüßen, okay?“
„Geht klar, Cherry.“ Haven schmiss seinen leeren Pappteller weg und griff nach meiner Hand. Alicia, Julie und Scott waren bereits alleine losgezogen, um eine Runde um den Platz zu ziehen. „Wir können ja noch ein bisschen bummeln.“
„Exakt.“ Gemütlich schlenderten wir durch die Gassen und blieben ab und zu vor einem Stand stehen. Haven kaufte mir sogar eine blaue Pudelmütze, nachdem ich sie von weitem angeschmachtet hatte.
Letztlich stellten wir uns dann doch in die Schlange vor dem Kettenkarussell. Warum wollten nur so viele Menschen damit fahren?
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