Tränen stiegen mir in die Augen, als ich die leere linke Bettseite entdeckte. Auf der großen Matratze lagen lediglich ein Kopfkissen und eine Bettdecke, in die meine Mutter noch eingewickelt war. Meine Augen huschten zu der Schranktür, die noch offen stand und mir die leeren Fächer dahinter preisgab.
Ein Schluchzen verließ unbeabsichtigt meine Lippen und ich presste mir sofort meine Hände vor den Mund, doch es war zu spät, denn meine Mutter war bereits aufgeschreckt.
„Rubie?“, fragte sie verschlafen und musterte mich mit müden Augen. Unter ihren braunen Augen konnte ich Augenringe ausmachen, die sonst nur mein Vater hatte. Bei dem Gedanken an meinen Vater, schluchzte ich erneut auf. „Hast du schlecht geschlafen?“
Ich schüttelte wild meinen Kopf. „Wo ist Dad?“ Meine Stimme war tränenerstickt und es war ein Wunder, dass meine Mutter mich überhaupt noch verstand. „Und warum hat er alle seine Sachen mitgenommen?“ Mamans Gesichtszüge waren nun etwas sanfter geworden, bevor sie schmerzverzerrt ihr Gesicht verzog. Stumm hob sie die Ecke ihrer Bettdecke an, was wie immer eine Einladung für mich war, um zu ihr ins Bett zu kriechen. Eilig kam ich der Einladung nach und versuchte sogar meine kalten Hände von ihrer nackten Haut fernzuhalten, da sie sich immer darüber beschwerte. Ich bettete meinen Kopf auf ihrer Brust und atmete ihren beruhigenden Duft ein.
Maman sprach nicht und beantwortete schon gar nicht meine Fragen. Jedoch tat es gut, eine Schulter zu haben, an der ich mich ausheulen konnte. Während meine Mutter sanft mit ihrer Hand über meinen Rücken strich, ließ ich meine Tränen in ihrem Nachthemd versiegen und lauschte konzentriert ihrem Herzschlag. Ich spürte sofort, wie es mich beruhigte und langsam wieder in den Schlaf wiegte. Maman half schon immer besser bei Schlaflosigkeit, als es irgendein Glas Milch konnte.
Ich war schon beinahe eingeschlafen, als ich die leise Stimme meiner Mutter vernahm. „ Wir brauchen keinen Mann, um glücklich zu sein, chérie .“
Das zweite Mal erwachte ich ein paar Stunden später. Meine Mutter hatte anscheinend das Fenster geöffnet, bevor sie das Zimmer verlassen hatte, da nun eine leichte Brise über meine nackte Haut wehte. Ich rümpfte meine Nase. Wollte Maman etwa, dass ich mich erkältete? Erst als ich das leere Bett genauer betrachtete, fielen mir wieder meine Erkenntnisse des Morgens ein. Dad war weg. Vermutlich für eine sehr lange Zeit. Für einen Moment überlegte ich, ob ich nach unten zu meiner Mutter wollte, die bestimmt schon Frühstück gemacht hatte. Jedoch würde ich es nicht ertragen können, wenn sie mich mit einem besorgten Blick bedenken und mir mein Haar streicheln würde. Nein, lieber würde ich Haven davon erzählen. Schließlich lebte sein Vater auch nicht mehr bei ihnen, weswegen er mich bestimmt besser verstand.
Und so schlich ich zum zweiten Mal am Tag die Treppen runter, nur um dieses Mal durch die Glastür in den Garten zu verschwinden. Das noch vom Tau feuchte Gras an meinen nackten Füßen jagte mir einen Schauer über den Rücken, doch so schnell wie ich im Garten war, war ich auch im Haus der Smiths. Ich hörte, wie Marie in der Küche herum hantierte, entschied mich aber zuerst bei Haven vorbeizuschauen.
Mein bester Freund war zum Glück bereits wach, als ich durch die offene Tür schlüpfte. Er lag bäuchlings auf seinem Bett mit einem dicken Buch in der Hand und schien vollkommen vertieft in die Welt der Charaktere.
Ich brauchte nicht mal etwas zu sagen, als ich mich neben ihn aufs Bett legte. „Guten Morgen, Cherry“, begrüßte mich seine fröhliche Stimme, ohne dass er seinen Blick von seiner Lektüre nahm. Ich blieb jedoch stumm, weswegen er doch irgendwann aufsah. Sobald er meine noch verquollenen Augen entdeckte, legte er sein Buch beiseite und zog mich näher an sich. „Was ist los?“
„Dad ist nicht da“, flüsterte ich leise und ließ meine Finger über den Saum seines Kopfkissens wandern.
Haven runzelte verwirrt seine Stirn. „Ist er wieder mit der Arbeit weg?“ Ich schüttelte meinen Kopf, doch als ich meinen Mund aufmachen wollte, um die Situation zu erklären, fehlten mir die Worte. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein Brett in meinen Kopf gesteckt und meine Zunge verknotet. Englisch kam mir vor wie eine Fremdsprache und auf einmal fehlte mir jegliches Vokabular. Haven schien zu merken, wie ich mit mir selbst kämpfte. „Hey, ganz ruhig. Vielleicht sagst du es erst auf Französisch? Dann fallen dir bestimmt wieder die englischen Wörter ein.“ Aufmunternd strich Haven über meine Schulter, während ich versuchte meine Gedanken zu ordnen.
„ Il est allé et il a pris toutes ses choses. ” Die Worte sprudelten geradezu aus mir heraus und Haven neben mir nickte brav, als würde er auch nur irgendwas verstehen. „Ich finde nichts mehr von Dad im Haus und Maman will mir nichts sagen.“
„Oh.“ Ja, oh. Havens Blick sagte mir, dass er dies nicht erwartet hatte und nun selbst nach den richtigen Worten suchte.
„Was, wenn ich Dad nie wieder sehe?“ Ich spürte, wie meine Augen sich erneut mit Tränen füllten und schloss sie deshalb eilig. „Ich hab ihn doch so lieb.“
„Ich kann dir nicht versprechen, dass du deinen Vater wiedersiehst“, sagte Haven schließlich nach einer Minute Schweigen. „Aber ich kann dir versprechen, dass ich bei dir bleibe.“
Erleichtert lächelte ich den Lockenkopf an. „Für immer?“
„Für immer und ewig, bis wir alt und grau sind.“
[5. Januar, 2008]
„Cherry, ich hab da etwas in der Zeitung entdeckt“, hörte ich Havens Stimme, bevor ich ihn überhaupt sehen konnte. Momentan eilte er die Treppen zu meinem Zimmer hoch, bevor er keuchend herein gestürzt kam. In der Hand hielt er einen Zeitungsausschnitt, den er wahrscheinlich aus der Tageszeitung seiner Mutter geschnitten hatte. Ich schnappte ihm den Zettel aus der Hand und studierte ihn gründlich. Es handelte sich um eine Anzeige, die ankündigte, dass sich das jährliche Volksfest gerade wieder in der Nähe von London befand.
Ich stieß ein tiefes Seufzen aus. „Und jetzt zeigst du es mir, um mir wieder unter die Nase zu reiben, dass ich dort nicht hin kann? Merci beaucoup . “ Havens genervtes Stöhnen ignorierte ich gekonnt und fuhr fort meine frisch gebügelte Wäsche auf meinem Bett zu falten.
„Nein, natürlich nicht. Du wirst mitkommen“, sagte Haven und erntete bloß eine gehobene Augenbraue meinerseits. „Wir haben schon ein Gruppenticket für die Zugfahrt gekauft und für dich ist noch ein Platz frei. Bitte, Cherry.“
Ich verkniff mir ein weiteres Seufzen. „Haven, du weißt, dass meine Mutter das nicht so lustig fände. Ich muss auf meine Brüder aufpassen“, erklärte ich sachlich und räumte einen Stapel Shirts in meine Kleiderkommode. Haven beobachtete mich nachdenklich.
„Und warum ist dann Bethany unten und sorgt dafür, dass deine Brüder beschäftigt sind?“
Weil Bethany doof ist und meine Mutter ihr mehr zutraut als mir. „Weil sie nun mal unser Babysitter ist. Sie würde mich auch nicht gehen lassen.“
„Falsch“, kam es von Haven, wie aus der Pistole geschossen und als hätte er bereits erwartet, dass ich dies sagte. „Ich habe aus ihr bereits eine Erlaubnis gekitzelt. Außerdem wird sie deiner Mutter nichts verraten.“ Während Haven mich nun mit einem triumphierenden Blick bedachte, erlaubte ich mir zum ersten Mal auszumalen, wie es wäre, wenn ich mit Haven nach London fahren würde. Ich war schon ewig nicht mehr auf diesem Volksfest gewesen. Nicht mehr, seit mein Vater uns im Stich gelassen hatte. Und mit dem ganzen Stress von der Schule und meiner Mutter, hatte ich einen lustigen Tag wirklich verdient.
Haven schien bereits zu wissen, dass er mich weich gemacht hatte. „Los, zieh dich an und pack etwas Geld ein. Ich werde dir nicht alles bezahlen.“ Grinsend griff ich nach meinem Geldbeutel, der auf meinem Nachttisch lag. Das hieß zumindest, er würde etwas für mich bezahlen. Im Eiltempo zog ich mir meinen dicken Mantel an und schlüpfte in meine Winterstiefel. Es war schließlich immer noch Januar.
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