„Hi, Kleiner“, sagte er lächelnd und trat einige Schritte auf mich zu. Ich wollte ihm sagen, dass er mich nicht ‚Kleiner‘ nennen sollte, jedoch hielt ich das nicht für die beste Idee. „Hast du Rubie gefunden und sie hergebracht?“
Verwirrt nickte ich. „Ihr Name ist Rubie?“
„Genau und ich heiße Thatcher, Thatcher Carpenter. Wir ziehen gerade hier ein, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“ Grinsend deutete Thatcher auf das Haus hinter sich. Für einen Moment wollte ich erzählen, dass ich dachte seine Tochter hieße Cherry. Doch dann fiel mein Blick auf Rubie, welche nun in den Armen ihrer Mutter lag und ihr Gesicht in ihrer Schulter vergrub. Vielleicht wäre dieses Missverständnis irgendwann eine lustige Anekdote, die ich ihr erzählen konnte, wenn sie älter war.
„Wir wohnen gleich hier“, sagte ich lächelnd und deutete auf unser Reihenhaus gleich neben dem der Carpenters. Um ehrlich zu sein, hatte ich gar nicht bemerkt, dass irgendwer neben uns einzog. Allerdings bekam man so einiges nicht mit, wenn man in seinem Zimmer blieb und ein Buch nach dem anderen verschlang. „Ich sollte auch wieder zu Mum.“
„Das wäre wohl besser, sonst macht sie sich noch Sorgen, wie Lucie“, scherzte Thatcher und zwinkerte mir zu, woraufhin seine Frau ihm irgendwas Französisches an den Kopf warf. „ Wir sehen uns dann …“
„Haven“, antwortete ich schmunzelnd. „Mein Name ist Haven.“ Thatcher warf mir ein breites Lächeln zu und ich wollte gerade die Treppen zu unserer Haustür erklimmen, als Rubie nach mir rief. Überrascht drehte ich mich um und sah zu dem kleinen Mädchen, das mir hinterher rannte.
„ Au revoir , ‘Arry“, flötete sie und winkte mir mit beiden Händen, bevor sie auf dem Absatz umkehrte und zu ihren Eltern zurück lief. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, betrat ich unser Haus. Ich würde sie definitiv wiedersehen.
∞
Ich hatte wirklich nicht geahnt Rubie so schnell wiederzusehen. Als ich jedoch kurz nach Mittag die Treppen runter ging und in das Wohnzimmer trat, wurde ich mit einem kleinen Mädchen auf unserem Teppich konfrontiert. Sofort fiel mein Blick auf die offene Terrassentür und den Garten, den wir uns mit den Carpenters teilten. So war sie also ins Haus gekommen.
„Warum sitzt du immer auf dem Boden, wenn ich dich antreffe?“, fragte ich amüsiert und kniete mich vor ihr auf unseren weichen Teppich. Das breite Grinsen, das sich auf Rubies Lippen ausbreitete, ließ ihre Augen erstrahlen.
„Weiß nicht“, antwortete sie und zuckte ahnungslos mit den Achseln.
Lachend hob ich eine Augenbraue. „Ach, Madame spricht Englisch? Wie kommt’s?“
„Daddy sagt, du verstehst nicht.“
„Da hat er vielleicht Recht, französisch ist nicht gerade eine meiner Stärken“, murmelte ich schmunzelnd und strich mir eine Locke aus der Stirn. „ Wie lange sitzt du schon hier?“
Erneut zuckte Rubie mit ihren Achseln. Lachend erhob ich mich und hielt ihr eine Hand hin, damit sie sich hochziehen konnte. Dieses Mal ergriff Rubie sie.
„Wie wäre es, wenn ich dir unser Haus zeige? Hättest du Lust darauf?“
„Ja!“ Rubies Augen strahlten, wie die hellsten Sterne im Nachthimmel, als sie meine Hand in ihre nahm und aufgeregt auf und ab sprang. „Los, los!“
„Immer langsam mit den jungen Pferden, Cherry“, sagte ich amüsiert. Mein Blick schweifte bereits durch den Raum, während ich mir Gedanken machte, was ich ihr alles zeigen konnte.
„Rubie“, verbesserte sie mich leise.
Grinsend tippte ich ihr auf die Nasenspitze. „Zu spät, jetzt heißt du schon Cherry.“ Ich machte eine weit ausholende Geste und stellte sicher, dass Rubies Augen auf mir lagen. „Dies ist unser Wohnzimmer. Da ist unser Fernseher auf dem wir Filme schauen und das Sofa ist so bequem, es könnte auch ein zweites Bett sein. Wo soll’s jetzt hin?“
„Küche“, sagte Rubie bestimmend und zog mich in den Flur, als wüsste sie wohin sie gehen musste. Mit gehobenen Augenbrauen folgte ich ihr. Im Flur blieb sie dann etwas hilflos stehen und sah mich auffordernd an. Ich musste mir ein belustigtes Kopfschütteln verkneifen und führte sie stattdessen in unsere kleine Küche.
„Das ist unsere Küche. Nichts Besonderes. Ich glaube, man sagt dazu klein, aber fein .“ Ich blickte mich in unserer Küche um, als stünde ich zum ersten Mal hier. Ich betrachtete die beigen Schränke, den brummenden Kühlschrank und den Obstkorb, den ich nur anrührte, wenn Mum Bananen gekauft hatte.
Danach zeigte ich Rubie jeden noch so kleinen Raum im Erdgeschoss – mit Ausnahme von dem Schlafzimmer meiner Mum -, bevor ich Rubie lachend die Treppen auf dem Rücken hoch trug. Ihr glockenhelles Lachen schallte durch das ganze Haus und ich fragte mich, warum ich mich zuvor nie viel mit kleinen Kindern abgegeben hatte. Sie waren zauberhaft und fast schon engelsgleich – zumindest in Rubies Fall.
„Okay, hier drüben ist mein Zimmer, das ist ein ehemaliges Büro und dort ist das zweite Bad“, erklärte ich, während ich auf die verschiedenen Türen deutete. Rubie sah sich mit weiten Augen um als würde ich sie gerade durch ein antikes Schloss führen und wir wären gerade im Schlafgemahl des Königs gewesen.
„Und das?“ Neugierig betrachtete sie die weiß gestrichene Tür, auf der die Buchstaben JADA draufgeklebt wurden. Sie stand einen klitzekleinen Spalt offen, wahrscheinlich damit meine Schwester nicht komplett erstickte in ihrem Loch.
„Das ist das Zimmer von meiner Schwester Jada, also Sperrgebiet, wenn du nicht gerade aufgefressen werden willst.“ Kaum hatte ich dies ausgesprochen, lugte ein brünetter Haarschopf durch den Spalt und ein paar braune Augen starrten mich grimmig an. Spöttisch lächelte ich meine Schwester an. „Da ist ja das kleine Monster.“
„Ich bin älter und größer, Haven“, sagte sie bestimmend. Dann fiel ihr Blick auf Rubie neben mir. Sofort verließ sie ihre kleine Höhle und stellte sich zu uns in den Flur. „Und wer bist du?“
„Rubie“, antwortete das kleine Mädchen lächelnd und hielt Jada ihre Hand hin. Grinsend wurde sie ergriffen und geschüttelt.
„Von nebenan“, fügte ich hinzu. „Ich zeige ihr gerade unser Haus.“ Um meine Aussage zu unterstützen, nickte Rubie eilig und schenkte Jada ihr breitestes Grinsen. Jada erwiderte dies und kniff unserer neuen Nachbarin in die Wange.
„Willst du mein Zimmer auch sehen?“ Erneut nickte Rubie, dieses Mal eindeutig begeistert und stürmte fast schon an Jada vorbei in das kleine Zimmer. Ich folgte den Mädchen und lehnte mich schließlich an den Türrahmen. Die Wände in Jadas Zimmer waren in einem Pastelblau gestrichen, nicht mehr wie früher in einem grellen Pink. Jedoch schlief sie immer noch in derselben Disney Bettwäsche wie früher – auch noch mit 14 Jahren. „Okay, das sind meine *NSYNC Poster, aber sprich mich bitte nicht darauf an, ich bin noch traumatisiert. In der Kiste sind meine alten Puppen, also wenn du möchtest, kannst du gerne ein paar haben. Oh, und das ist O’Malley, mein Kater.“ Kaum hatte Rubie den orangen Kater auf Jadas Sessel entdeckt, flitzte sie zu ihm. Es war ein Glück, dass O’Malley bereits schon einige Jahre auf dem Buckel hatte und deswegen nicht Reißaus nahm. Rubie schien ihre Hände gar nicht mehr von dem Kater nehmen zu wollen.
„Ich habe auch eine Katze“, sagte ich schließlich – zugegeben auch um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Sie heißt Nox und ist bestimmt in meinem Zimmer.“ Rubies Augen wurden so groß wie Teller, weswegen Jada und ich einen wissenden Blick austauschten. Vermutlich hatten wir uns für das Mädchen gerade ungewollt unentbehrlich gemacht.
Havens Sicht
[21. Juni, 2003]
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