Während meine Mutter wieder ihre Kunden beriet, sammelte ich meinen Kater und meinen besten Freund ein und machte mich auf den Heimweg.
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Eines von sechs Kindern zu sein war anstrengend. Fünf kleine Brüder zu haben war ein Fluch und Segen sogleich. Fünf kleine Brüder zu haben hieß, dass das Haus immer laut war. Fünf kleine Brüder zu haben hieß aber auch viel Liebe. Fünf kleine Brüder zu haben hieß, dass man in einem Chaos lebte. Fünf kleine Brüder zu haben hieß, dass man niemals seine Ruhe hatte. Fünf kleine Brüder zu haben hieß die Verantwortung zu haben. Fünf kleine Brüder zu haben hieß aber auch, dass ich die Schuld notfalls auf sie schieben konnte – und das tat ich auch öfter als man meinen sollte. Hatte ich aber auch schon erwähnt, dass fünf kleine Brüder, gerne Kleidung stahlen?
„Maman, ich glaube Maxime hat wieder meine Unterwäsche geklaut“, jammerte ich, nachdem ich meine Kommode durchforstet hatte, ohne ein einziges Bustier gefunden zu haben. Ich wusste nicht, was mit meinem Bruder los war. Ich war mir aber sicher, dass er meine Unterwäsche – oder sämtliche andere Kleidung eigentlich – nur aus Spaß entwendete. Wenn er sie zumindest anziehen würde, hätte vielleicht sogar ich meinen Spaß.
Meine Mutter, die gerade mein kleines Zimmer betreten hatte, schenkte mir einen undefinierbaren Blick. Man müsste meinen, dass sie als einzige andere Frau im Haushalt zu mir stand, aber dies war nur selten der Fall.
„Das ist bestimmt seine Art und Weise zu sagen, dass du nicht gehen sollst, chérie “, versicherte sie mir und klappte den ersten Koffer auf meinem Bett auf. Ich rollte heimlich mit den Augen, sobald sie nicht hinsah. Dass ich ging, war schließlich nicht meine Entscheidung.
„Das ist seine Art und Weise ein nerviger neunjähriger Junge zu sein.“ wisperte ich mehr zu mir selbst und stellte mich an meinen Türrahmen. „MAXIME!“ Wenn ich etwas gelernt hatte in den letzten Jahren, dann dass meine Brüder am besten hörten, wenn ich durchs komplette Haus rief.
„WAS?“, hallte die Antwort meines ältesten kleinen Bruders durch das Haus. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass meine Mutter mich mit einem strengen Blick bedachte, doch das war mir egal. Ich konnte immer und überall eine feine Lady sein, aber jetzt wollte ich nur meine Unterwäsche zurück. „ANTRETEN ODER ICH TRETE DIR IN DEN HINTERN!“ Jetzt hörte ich meine Mutter hinter mir seufzen. Ich war nicht schuld. Es war ganz allein ihre Schuld, dass sie mehr als ein Kind wollte.
Nach einer Minute kam mein Bruder im Schneckentempo die Treppen hoch geschlurft. Ich rollte genervt mit den Augen.
„ Allez hop “, forderte ich ihn auf und winkte ihn zu mir. Er schien zu wissen, was ihn erwartete. Nach weiteren zwei quälenden Minuten stand er endlich vor mir. „Wo ist meine Unterwäsche?“
Er zuckte unschuldig mit den Achseln. „Woher soll ich das wissen? Ist ja nicht meine.“
„Maxime James Carpenter“, ertönte die warnende Stimme meiner Mutter und man konnte direkt sehen, wie Maxime jegliche Diskussion aufgab. Er machte sich klein, indem er seinen Kopf einzog, und sah mich dann entschuldigend an.
„Unter deinem Bett in der Kiste mit deinen Schwimmsachen“, gab er schließlich verlegen zu. Da er wirklich aussah als würde es ihm leidtun, warf ich ihm nur einen letzten enttäuschten Blick zu, bevor ich die besagte Kiste unter meinem Bett hervorholte. Tatsächlich: Wenn man einen blau-karierten Badeanzug beiseiteschob, fand man meine Bustiers aufgestapelt darunter. Zumindest hatte Maxime die Farbordnung nicht durcheinander gebracht. Mein kleiner Bruder wollte bereits die Treppen wieder runter, bevor er sich nochmal zu uns umdrehte.
„Yves hat deine Lieblingsbücher im Zimmer der Drillinge versteckt.“ Seine Stimme war leise und voller Reue und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass meine Brüder wirklich nicht wollten, dass ihre große Schwester nach Kanada abhaute.
„Ich hole sie mir gleich“, sagte ich sanft zu ihm und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. In der Woche, die ich hier noch hatte, würde ich viel Zeit mit ihnen verbringen und mit Haven. Ich wollte nicht, dass sie sich schlecht fühlten.
Meine Mutter sah mich stolz an und strich über meinen Rücken. Ihre warmen Hände beruhigten meine Gedanken, die wie Düsenjets durch mein Gehirn fegten.
„Warum?“, fragte ich schließlich. Wir hatten bereits meine Unterwäsche und mehrere Stapel Sweatshirts in dem Koffer verstaut und die Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. „Warum musste es Kanada sein, Maman? Das ist so weit weg.“
„Weil das Leben kein Ponyhof ist, chérie “, erklärte meine Mutter behutsam und faltete einen alten Pulli von Haven zusammen. Er hatte ihn mir schon vor einem Jahr geschenkt und natürlich musste er mit nach Québec. „Ich möchte, dass du die bestmögliche Ausbildung kriegst und das Lycée D'Ariane bietet dir klasse Möglichkeiten. Der Unterricht ist in Englisch und Französisch und -“
„Und nicht jeder wird sofort angenommen, ich weiß.“ Ich stieß ein tiefes Seufzen aus und ließ mich auf meinem Bett nieder. Picasso stapfte bereits auf dem Kopfkissen herum und ließ sich nur zu gerne von mir hinter dem Ohr kraulen. Gab es irgendeine Möglichkeit, dass ich Picasso ebenfalls in einen meiner Koffer packen konnte?
„Außerdem ist es nur Kanada, kein anderer Planet. Und man kann nicht für immer zuhause bleiben. Ich bin auch aus Frankreich raus, für deinen Vater.“
„Du hast Recht, Maman.“ Ich richtete mich wieder auf. Kinn hoch, Brust raus. „Ich bin ein starkes Mädchen, ich schaff das.“ Mit diesen Worten wollte ich wohl mehr mir selbst Mut machen als irgendetwas anderes. Ich begann wieder Kleidungsstücke in meinen Koffer zu legen. Ich war so damit beschäftigt, dass ich den nachdenklichen Blick meiner Mutter gar nicht bemerkte.
[30. August, 2009]
Da Ferien waren, hatte ich eigentlich gedacht, ich würde ausschlafen. Ich hatte gedacht, ich würde gegen Mittag von der strahlenden Sonne geweckt werden. Ich hatte gedacht, ich würde den Tag ganz entspannt beginnen und ihn dann mit Haven verbringen.
Was ich definitiv nicht gedacht hätte, war, dass ich davon aufwachte, wie meine Mutter meine Zimmertür aufwarf. Ich hätte nicht gedacht, dass es sowohl in meinem Zimmer als auch draußen noch stockdunkel war. Und ich hätte ganz sicher nicht gedacht, dass ich von dem Knarzen meiner Tür so erschrocken wäre, dass ich nun aufrecht in meinem Bett saß und meine Mutter alarmiert ansah.
Ich konnte nicht erkennen, ob sie panisch oder einfach nur gestresst war, dazu schlug mein Herz im Moment viel zu schnell und meine Gedanken hingen noch in den Traumwolken fest.
„Was ist los?“ Selbst meine Stimme wollte noch nicht um diese Uhrzeit kooperieren, da es ja erst – wie viel Uhr war es eigentlich? Mein Blick fiel auf die Digitaluhr auf meinem Nachttisch. Die Zahlen 04:07 strahlten mir in einem dunklen, fiesen, niederschmetterndem Rot entgegen. Es schien als hätte mein Wecker kein bisschen Mitleid mit mir. Deswegen hatte ich ihn auch nicht eingepackt.
„ Chérie, es gab einen kleinen Zahlendreher“, erklärte mir meine Mutter, während sie mein Zimmer betrat und sanft die Bettdecke von meinem Körper schlug. Verwirrt runzelte ich meine Stirn und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Ein Zahlendreher? Also war es doch 07:04 Uhr? Das wäre zumindest ein kleiner Lichtblick. „Ich hab mich bei den Daten auf deinen Informationsblättern verlesen. Die Schule in Kanada beginnt doch früher als in England.“
Ich seufzte schwer. Es kam oft vor, dass meine Mutter sich bei einem Datum verlas oder es verwechselte. Ich hätte wirklich noch mal über die Informationsblätter lesen sollen. Allerdings hatte Maman diese weggeschlossen, als wären es wichtige Papiere. „Wie viel früher?“ Bitte nur einen Tag, bitte nur einen Tag.
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