Schließlich drehte ich meinen Kopf, um einen letzten Blick auf meine Lieblingsblondschöpfe zu erhaschen. Alles was ich jedoch entdeckte waren die kalten hellen Fließen, auf denen jetzt keine fünf Paar Turnschuhe mehr standen.
Mein Herz rutschte in meine Hosentasche und schon wieder brannten mir Tränen in den Augen. Ich wünschte Haven wäre bei mir. Ich wünschte Haven wüsste, dass ich los musste. Das würde mein Gewissen um einiges beruhigen. Und vor allem wünschte ich mir, dass meine Mutter ihr Versprechen hielt und Haven die Situation erklärte. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie er schauen würde, wenn er erfuhr, dass ich bereits abgereist war. Es brach mir das Herz auch nur das Bild vor meinen Augen auszumalen. Aber Maman hatte mir versprochen, dass sie Haven in Kenntnis setzen würde. Und darauf vertraute ich – schließlich konnte sie ihm so unter die Nase reibe, dass ich nun fort war.
„Junge Dame?“ Überrascht zuckte ich zusammen und sah zu dem Sicherheitsbeamten, der zu meinem Rucksack nickte. Stumm legte ich meinen Rucksack in eine graue Plastikkiste und suchte noch andere Metallstücke an meinem Körper. Dem Mann reichte ich schon mal meine Unterlagen. „Rubie, du gehst bitte hinter diesem grauen Tor zu der netten Frau da, ja? Sie gibt dir dann deine Sachen und bringt dich zum Gate“, erklärte er mir. Seine Stimme war milde und sanft. Wahrscheinlich redete er oft mit Kindern. Ich nickte und zupfte an dem Schild um meinen Hals, das anzeigte, dass ich alleine reiste. Mir war nicht danach viele Worte auszutauschen – schon gar nicht mit einem Fremden. Außerdem kannte ich diese Prozedur, war oft genug alleine geflogen. Und doch war es heute anders. Ab heute wohnte ich in Kanada.
„Rubie Carpenter?“, fragte die rothaarige Frau in einem blauen Kostüm. Sie schien im mittleren Alter zu sein und hielt mir bereits meinen Rucksack hin. Nickend nahm ich meine Tasche auf den Rücken. „Fliegst du das erste Mal allein?“
Dieses Mal machte ich den Mund auf. „Nein, ich bin schon oft nach Paris geflogen.“
„Ah“, machte die Frau lächelnd, als sie mich sanft vorwärts schob. „Paris, die Stadt der Liebe. War es schön dort? Habt ihr dort Urlaub gemacht?“ Ich schüttelte meinen Kopf, meine Augen auf die vielen Läden neben uns gerichtet. Hätte ich Geld dabei gehabt, könnte ich vielleicht etwas kaufen. Vielleicht Schokolade. Oder ganz viel Schokolade. Das würde sicherlich meine Nerven beruhigen.
„Meine Großmutter wohnt dort“, murmelte ich geistesabwesend. Die Frau musste mich an meinem Arm leicht ziehen, damit ich nicht vor einem Geschäft stehen blieb. Als wir endlich am richtigen Gate ankamen, setzte ich mich nicht auf einen der Stühle, sondern vor das große Fenster mit Blick auf die Flugzeuge. Meine Betreuerin wollte erst mit mir darüber diskutieren, da der Boden ja eiskalt wäre und auch total dreckig . Ich hatte nur mit den Achseln gezuckt, meine Beine zu einem Schneidersitz gefaltet und meine Stirn gegen das Fenster gelehnt. Ich brauchte Abstand. Von allem. Von allem außer Haven, aber ihn konnte ich ja nicht sprechen und dass nur weil ich vergessen hatte mein beschissenes Handy aufzuladen.
[30. August, 2009]
Schweigend starrte ich aus dem Autofenster und betrachtete den Wald, durch den wir fuhren. Man konnte nichts anderes als Bäume sehen, was mich vermuten ließ, dass wir ziemlich tief im Wald waren. Eigentlich fand ich es ganz schön hier. Die Blätter waren orange, rot und gelb und ich hatte das Gefühl, die warmen Farben lenkten von der eigentlichen Temperatur ab. Auch der Rest, den ich bisher von Québec gesehen hatte, war wunderschön gewesen. Vielleicht würde es gar nicht so übel werden.
Man hatte mich vom Flughafen abgeholt – mich und ein paar andere Schüler. Ein breitschultriger Mann, der auf den Namen Mike hörte, hatte dort gestanden mit einem Schild mit der Inschrift 'Lycée D'Ariane' und jeden eingesammelt, der auf seiner Liste stand. Und nun saß ich hier in diesem blauen Auto, eingequetscht zwischen einem Mädchen, das sich während der Fahrt schon bestimmt alle Fingernägel abgekaut hatte und einem Jungen, der Kopfhörer in den Ohren hatte und seine Füße im Takt wippte. Dabei stieß er immer gegen meine Beine und dem Rhythmus nach zu urteilen, hörte er Heavy Metal. Um genau zu sein, konnte ich das sogar hören, da er die Kopfhörer auf dem maximalen Volumen eingestellt hatte. Im Nachhinein bereute ich es sehr, dass ich mich in die Mitte gesetzt hatte. Eine schreckliche Müdigkeit, die man wohl Jetlag nannte, hatte mich übermannt und da ich meinen Kopf ja schlecht auf eine der Schultern meiner Sitznachbarn legen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als wach zu bleiben
Das Mädchen, was auf dem Beifahrersitz saß, war älter als wir, hatte ihre Haare ganz kurz geschnitten und blau gefärbt. Ihre Lippen zierte ein Piercing und ihre Ohrlöcher wurden von Tunnels gestreckt. Ich fand sie wahnsinnig hübsch. Sie hatte schöne lange Wimpern, die fedrige Schatten auf ihre mit Sommersprossen besetzten Wangenknochen warfen. Sie war vielleicht nicht das Schönheitsideal – groß, schlank, blond -, aber das fand ich umso besser.
Gerade als ich zum tausendsten Mal schaute, ob mein Handy vielleicht doch anging, erhob sie ihre Stimme. „Mike, wie lange werden wir denn noch fahren?“
Der Mann im mittleren Alter straffte seine Schultern und räusperte sich. „Ich schätze noch etwa zwei Stunden, Jess.“
Ich unterdrückte ein genervtes Stöhnen und ließ meinen Kopf nach hinten fallen. Zwei weitere Stunden in diesem Auto. Zwei weitere Stunden Knabbern an den Fingernägeln und Wippen mit dem Fuß. Zumindest hatte ich noch das hübsche Mädchen – Jess, wie ich jetzt wusste – und sie schien ganz nett zu sein.
„Jess, bist du schon länger Schülerin hier?“, fragte ich leise, nachdem für weitere fünf Minuten Stille geherrscht hatte. Überrascht drehte Jess ihren Kopf zu mir, sodass ich direkt in ihre eisblauen Augen sah.
„Nein, ich bin hier rüber gewechselt, aber ich war im letzten Schuljahr bereits für einige Tage da, … ähm Rebecca?“
„Rubie“, verbesserte ich sie lächelnd.
„Rubie“, murmelte Jess lächelnd, „Du bist neu, richtig? Noch nie hier?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, niemals.“
Jess summte verständnisvoll und nickte langsam. „Es wird dir gefallen. Am Anfang ist es bestimmt etwas gewöhnungsbedürftig, aber … das ist eben das Flair vom LDA. “ Als ich sie fragte, was sie damit meinte, zwinkerte sie mir nur zu und sagte ich würde schon sehen. Dann wechselte sie geschickt das Thema. „Du kommst aus England, oder? Du klingst auf jeden Fall britisch. Also kommt deine Familie aus Frankreich? Das liegt ja dort am nächsten.“
„Sie könnte auch aus Belgien kommen“, ertönte eine schüchterne Stimme neben mir. Meine Sitznachbarin hatte von ihren Fingernägeln abgelassen und mischte sich nun auch mit ins Gespräch ein. Jess sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich meine ja nur, Belgien wäre auch in der Nähe, sowie die Schweiz und Monaco und auch Luxemburg.“
„Okay, okay, Miss Schlaumeier“, lachte Jess und dem Mädchen schoss das Blut in die Wangen.
„Ich heiße Sofie, nicht Miss Schlaumeier“, wisperte sie so leise, dass ich sie beinahe nicht verstehen konnte. Außerdem sah sie so verlegen aus, dass ich dachte, sie würde gleich wieder damit anfangen ihre Fingernägel abzukauen.
„Du hattest schon Recht“, wandte ich mich letztlich an Jess, „Die Familie meiner Mutter kommt aus Paris und Umgebung.“
Jess grinste breit und klopfte auf ihre eigene Schulter. „Ich weiß, ich bin halt toll.“ Ich lachte leise über ihre Reaktion, jedoch hörte ich Sofie neben mir leise 'Glückstreffer' murmeln. „Also ich komm ja aus Kalifornien. Mein Stiefvater, der mehr mein Dad ist als mein Erzeuger, kommt von der Elfenbeinküste. Er spricht schon mit mir Französisch seit ich denken kann.“
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