„Oh, hör mal, sie spielen dein Lied“, lachte Haven und deutete auf die Lautsprecher, die in unserer Nähe angebracht worden waren. Für einige Sekunden schwieg ich, um der Musik lauschen zu können. Er hatte Recht, es handelte sich um eines der Lieder, die Haven mir vor einigen Wochen gezeigt hatte und sie als meine Lieder bezeichnet hatte. Wenn ich mich nicht irrte, spielten sie gerade Cherry Cherry von Neil Diamond, da es nämlich eines der älteren Lieder gewesen war.
„ She got the way to move me, Cherry
She got the way to groove me, Cherry baby ”, sang Haven leise und wippte seinen Kopf im Takt. Kichernd tat ich es ihm nach und versuchte mitzusingen, obwohl ich den Text nicht konnte. „Zu deinem Geburtstag werde ich dir eine CD brennen mit diesen Liedern. Das ist dann dein eigenes Mix-Tape.“ Lachend schüttelte ich meinen Kopf, doch mein Lachen verging mir schnell, als ich entdeckte, dass wir in der Schlange als nächstes dran kamen und es noch viele freie Plätze auf dem Karussell frei waren.
„Haven, ich will doch nicht mehr“, sagte ich kleinlaut und wollte mich gerade auf dem Absatz drehen und abhauen, da hatte Haven schon einen Arm um mich geschlungen. Sanft schob er mich zu zwei Sitzen, die miteinander verbunden waren. Stumm hob der Lockenkopf die eiserne Stange an, die mein einziger Schutz sein sollte, und deutete mir an mich zu setzen. Nachdem er sich auch auf den metallenen Sitz fallen gelassen hatte, blickte er zu mir. Ich konnte mir schon vorstellen, wie ich aussah. Rote Wangen, aufgerissene Augen und meine Zähne malträtierten gerade meine Lippen.
„Ich kann das nicht, Haven.“ Dieses Mal klang meine Stimme richtig verzweifelt, als das Karussell begann sich zu drehen. Ich schloss meine Augen, zog meine Augenbrauen zusammen und wartete darauf, dass sich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen ausbreitete. Doch das Gefühl kam nicht, stattdessen spürte ich, wie Haven meine Hand fest mit seiner umschlang.
„Öffne deine Augen“, ertönte seine ruhige Stimme und ich folgte zögernd seiner Aufforderung. Sofort drückte ich Havens Hand etwas fester, denn das, was sich nun vor meinen Augen auftat, war atemberaubend. Wir waren zwar noch nicht an höchster Stelle des Kettenkarussells, jedoch hatte ich jetzt schon einen wundervollen Ausblick über den Rest des Volksfests. Es hatte etwas Magisches, die vielen kleinen Stände von oben zu sehen. Der Wind wehte durch meine Kleider und mein Haar und entlockte mir ein Lachen. „Ich hab doch gesagt, es wird dir gefallen.“
Ich drehte meinen Kopf zu meinem besten Freund, dessen Haare ebenfalls in alle Richtungen flogen. „Danke“, sagte ich gerademal laut genug, sodass man mich über das Geschrei und Gelächter der Kinder hören konnte.
„Nichts zu danken, Cherry“, erwiderte Haven gelassen, doch ich konnte es so nicht stehen lassen. Es steckte so viel mehr hinter dem kleinen Wort ‚Danke‘.
„Nein, wirklich. Merci beaucoup . “
∞
Kichernd schlang ich meine Arme fester um Havens Hals und vergrub meine Nase in seiner Lockenpracht. Seine Haare wurden in letzter Zeit immer länger, sodass seine Frisur aussah, wie die eines Wischmobs oder wie ein Königspudel. Mit einem leisen ‚hmpf‘ korrigierte Haven seinen Griff um meine Kniekehlen.
„Sind wir bald da-a?“, fragte ich in meiner besten Imitation meiner kleinen Brüder und entlockte damit meinem besten Freund ein leises Lachen.
Es war mittlerweile bereits abends und wir waren auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause. Nachdem wir auf dem Kettenkarussell gewesen waren, hatten wir uns wieder mit den anderen dreien getroffen und waren mit ihnen um die Stände gezogen. Zum Abschluss hatten wir uns Schlittschuhe ausgeliehen und waren zwei Stunden lang auf dem Eis gelaufen. Es war wirklich ein toller Tag gewesen und ich würde Haven – und auch Alicia, Julie und Scott – nie genug danken können.
„Jap.“ Sanft ließ Haven mich vor unserer Haustür von seinem Rücken gleiten. „Hast du deinen Schlüssel?“ Nickend fummelte ich meinen Schlüsselbund aus meiner Tasche und trat einen Schritt näher an die Tür. Ich hatte bereits das Auto meiner Mutter in der Einfahrt gesehen, weswegen ich hoffte, dass sie einen guten Tag gehabt hatte. Ansonsten würde mir wohl der Kopf abgehackt werden.
Kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen und war mit Haven in den Flur geschlüpft, stand auch schon meine Mutter mit verschränkten Armen und strenger Miene an der Treppe. Ich musste schlucken. In meinem Gedanken hörte ich schon die Rufe der roten Königin aus ‚Alice im Wunderland‘. Kopf ab!
„Wo kommt ihr denn jetzt her?“, fragte meine Mutter und hob ungeduldig eine Augenbraue, als wir nicht sofort antworteten. Ich war im Lügen nie besonders gut gewesen, weswegen ich wirklich hoffte, dass Haven etwas parat hatte.
„Wir waren bei meiner Tante am anderen Ende der Stadt“, erklärte Haven, doch wenige Sekunden später trat auch Bethany die Treppe runter. Sie hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst und ich wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte gepetzt. Diese miese Schlange hatte gepetzt. Vielleicht sollte man lieber ihr den Kopf abschlagen.
Während ich bereits meinen Racheplan für Bethany schmiedete, setzte Haven zu einer weiteren Erklärung an. „Na gut, wir waren in London auf dem Volksfest, aber da ist nun wirklich nichts Schlimmes dran.“
„Ihr wolltet mich belügen“, sagte meine Mutter und bedachte mich mit einem enttäuschten Blick. Ich konnte nicht anders, als meinen Kopf zu senken. Maman gab mir immer das Gefühl, ich würde nicht gut genug sein.
„Aber doch nur, weil wir wussten, dass du so reagieren würdest. Dabei ist ja nichts passiert.“ Haven schien nun vollends genervt zu sein, da er ebenfalls seine Arme vor der Brust verschränkt hatte und meine Mutter anfunkelte. Glück für ihn, dass er ihr bereits über den Kopf gewachsen war.
„Du bist mit meiner Tochter nach London gefahren, ohne es mir zu sagen und du -“
„Ich habe es Bethany gesagt“, unterbrach Haven sie bitter. „Ich habe sie sogar um Erlaubnis gefragt, also ist dies nicht meine Schuld.“
„Bethany hat damit gar nichts zu tun“, fauchte meine Mutter plötzlich. Es fühlte sich an, als hätte jemand mir einen Dolch ins Herz gestoßen. Noch nie hatte meine Mutter mich so leidenschaftlich verteidigt. Zumindest konnte ich mich an keine Situation erinnern. „Du bist Schuld. Du setzt meinem Kind Flöhe ins Ohr und versuchst sie zu verderben.“
„Ich bin bereits verdorben, Maman“, rief ich nun auch aus und es war mir egal, ob meine Brüder es mitbekamen – ob die ganze verdammte Stadt es mitbekam. Ich hatte genug. Genug davon, dass meine Mutter Haven niedermachte und mich eine schlechte Tochter nannte. „Ich bin bereits verdorben und du bist ganz allein schuld. Dauernd sitzt du mir im Nacken und dauernd muss ich mir deine Meckereien anhören. Haven ist dies, Haven ist das. Kannst du nicht einmal eine normale Mutter sein und mir zuhören? Oder mir Trost spenden? Oder verdammt nochmal mit meinen Freunden klar kommen?“ Die Worte schossen aus meinem Mund wie kleine Pistolenkugeln und wenn ich ab der hälfte ins französische übergegangen war, dann bekam ich das nicht mit. Was ich schon mitbekam, war wie das Gesicht meiner Mutter puterrot wurde.
„Hoch mit dir“, sagte sie so ruhig, dass ich beinahe Angst bekam. „Ab in dein Zimmer!“ Mit gesenktem Kopf schlüpfte ich an meiner Mutter vorbei und ging die Treppen hoch. Ich gab mir Mühe besonders laut aufzutreten, weswegen ich mir auch nicht sicher war, ob ich die folgenden Worte meiner Mutter wirklich gehört hatte.
„Noch einmal, junger Mann. Noch einmal so einen Aufstand und ich sorge dafür, dass du Rubie nie wieder siehst.“
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