»Ich habe nur einen Gott«, war die einsilbige Antwort. Mit ihrem Gott hatte sie vorhin mehr Worte gewechselt als mit mir.
»Der unsichtbare Gott ohne Name?«
»Er hat einen Namen. Er nennt sich selbst: Der ich bin .« Ich sah Kokatschin an, dass sie sich mühsam beherrschen musste. Was hatte ich denn nun schon wieder getan?
»Und wer ist das da?« Ich deutete auf das Kreuz mit dem hingerichteten Schamanen, das sie an ihre Brust gepresst hielt. Sie hielt das Kreuz so fest, dass es beinahe zerbrach.
»Sein Sohn.«
»Dein Gott hat einen Sohn? Wer war die Mutter?« Diese Frage sollte mein ehrliches Interesse an ihrem Glauben bezeugen, aber Kokatschin hatte mich missverstanden.
»Eine Jungfrau «, erklärte sie mit besonderer Betonung der Tatsache, dass der Gott einer unberührten Frau beigewohnt hatte.
»Und so einen Unsinn glaubst du? Ein Gott und eine Jungfrau! Das ist wirklich originell«, lachte ich. »Kennst du die Legende von Alankoa, die eines Nachts vom Mondlicht ...?«
»Benutzt Ihr zum Denken hin und wieder Euer Gehirn oder denkt Ihr immer mit dem Schwanz?«, fauchte sie mich an. »Jesus wurde durch Gott gezeugt und durch die Jungfrau geboren. Mirjam wälzte sich mit ihrem Gatten Yusuf nicht in leidenschaftlicher Ekstase im Bett. Sie empfing ihren Sohn durch den Heiligen Geist.«
Ich versuchte ruhig zu bleiben. »Hatte Jesus Geschwister?«
»Jesus war der älteste Sohn von Mirjam. Er hatte noch vier Brüder.«
»Sind die Geschwister auch alle von Gott gezeugt worden?«
»Nein, sie sind Kinder Yusufs.«
»Also hat sich die Jungfrau mit ihrem Mann vergnügt!«
Ich begann meine Terleg aufzuknöpfen, um mich für die Nacht fertig zu machen. Kokatschin saß mir gegenüber am Herdfeuer und starrte in die Flammen. Ich ließ die Terleg zu Boden fallen, setzte mich auf das Bett und zog mir die Stiefel aus.
Sie saß nur eine Handbreit neben mir und ignorierte mich, als befände ich mich am anderen Ende der Welt. Ich beugte mich zu ihr hinüber und küsste ihr Ohr. »Komm ins Bett!«, flüsterte ich.
»Ich bin noch nicht müde.« Sie wollte nicht müde sein!
»Dann erzähl deine Geschichte zu Ende«, forderte ich sie auf.
Sie schwieg, überlegte wohl, ob sich die Mühe lohnte.
Ich wartete einige Minuten, lauschte auf das Prasseln des niederbrennenden Feuers, aber sie schwieg beharrlich. Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. Irgendwann würde sie zwischen die warmen Decken kriechen und ich meine Arme um sie schlingen ...
»Seine Eltern lebten in Nazaret.«
Ich war schon eingeschlafen und schreckte hoch. » Wer ?«
»Mirjam und Yusuf. Sie lebten in Nazaret. Vor eintausendzweihundert Jahren. In Nazaret hat Jesus den größten Teil seines Lebens zugebracht. Vielleicht ist er sogar dort geboren worden, obwohl zwei der Evangelien ihn aus Betlehem stammen lassen, damit sich eine Prophezeiung erfüllen kann. Der Messias soll nämlich aus Betlehem stammen.«
»Wer ist denn nun wieder der Messias?«
»Der Messias wurde von den Propheten als der Erlöser von den Leiden des jüdischen Volkes verheißen.«
»Du gehörst dem jüdischen Volk nicht an. Du leidest nicht. Warum glaubst du an diesen Messias Jesus?«
»Weil ... weil ...« Sie schien sich der richtigen Antwort nicht ganz sicher zu sein. »Weil er den Wahren Glauben verkündet hat.«
»Das tut doch jeder Prophet. Er glaubt es zumindest.«
»Jesus sprach vom Himmelreich Gottes und er legitimierte sich durch Wunder.«
»War er ein Schamane?«
»Nein, er war ein Handwerker. Jesus beschäftigte sich schon als Junge mit religiösen Fragen und erlangte Kenntnisse der Heiligen Schriften. Viele Juden glaubten damals, dass die Welt bald untergehen wird, und als Jahre später der Prophet Johannes, den man auch den Täufer nannte, das baldige Kommen des Himmelreiches verkündigte, folgte auch Jesus seinem Ruf und ließ sich taufen.«
»Er ließ sich taufen?«
»Johannes tauchte ihn in das Wasser des Jordan.«
»Wozu sollte das gut sein? Es ist verboten, in fließendem Gewässer ein Bad zu nehmen, um sich zu reinigen. Die Flussgeister ...«
»Jesu Taufe war eine Reinigung von seinen Sünden, kein Abwaschen von Staub.«
»Wenn der Prophet ein Sohn Gottes war, warum hat sein Vater dann nicht wie jeder vernünftige Vater dafür gesorgt, dass Jesus sich anständig benahm? Was hatte er getan? Wieso musste er ...?«
»Jeder Mensch ist ein Sünder. Seit der Erschaffung der Welt.«
»Ich auch?«
»Ihr auch, Temur.«
»Und was habe ich getan, dass ich vor deinem Gott in Ungnade gefallen bin?«
»Ihr seid ein Nachkomme des ersten Menschen.«
»Das ist alles? Und was hat dieser Mensch so Furchtbares getan?«
»Er hat sich von seiner Frau verführen lassen.«
Ich lachte aus vollem Herzen. »Er hat was ?«
»Er hat sich zur Sünde verführen lassen und wurde deshalb von Gott auf die Erde verbannt und verflucht.«
» Ich hätte Spaß daran, eines Tages von dir verführt zu werden ...«
Sie schwieg.
»Wenn ich dich recht verstehe, hatte der Prophet Jesus also mit einer Frau geschlafen und musste deshalb ...«
»Nein! Hatte er nicht !«
Die Heftigkeit ihrer Reaktion überraschte mich. » Niemals ?«
»Niemals. Ganz sicher nicht.«
»Dann tut er mir leid.«
»Es gibt noch anderes im Leben, als sich mit möglichst vielen Frauen im Bett gewesen zu sein!«, fauchte sie.
»Ach ja? Was ist es? Lass mich nicht dumm sterben!«
»Jesus war ungefähr dreißig Jahre alt, als er seine Tätigkeit als Prediger aufnahm, und er setzte seine Tätigkeit zwei oder drei Jahre fort. Während dieser Zeit zog er im Land umher und predigte. Er heilte Kranke, trieb böse Geister aus und erweckte Tote.«
»Also war er doch ein Schamane.«
»Nein!«
Ich gab es auf. Sie wollte nicht begreifen, dass Geisteraustreibung und Heilung eine völlig normale Tätigkeit eines Schamanen war. »Ich bin müde«, sagte ich gähnend. »Wie lautet das Ende der Geschichte?«
»Jesu große Anhängerschaft beunruhigte die Priester. Sie hielten sich für die allein berechtigten geistigen Führer und fürchteten, dass sie ihre Macht verlieren würden. Sie haben ihn kreuzigen lassen.«
»Weswegen?«
»Wegen Gotteslästerung.«
»Das ist absurd! Du hast gesagt, er war der Sohn Gottes.«
»Die Priester leugneten das.«
»Und warum hat Jesus sie nicht von der Wahrheit überzeugt? Warum ist er nicht vom Kreuz herabgestiegen? Konnte er nicht oder wollte er nicht? Wenn er nicht konnte, hätte er sich nicht Gottes Sohn nennen dürfen. Und wenn er nicht wollte, war er ganz schön dumm. Oder ist es etwa keine Unvernunft, sich seinen Feinden zu ergeben, um sich hinrichten zu lassen?«
Kokatschin wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Mir war in jener Nacht nicht klar, dass sie ihr eigenes Schicksal mit dem ihres Propheten verglich. »In der Nacht vor seiner Hinrichtung bat er seinen göttlichen Vater, ihm dieses Schicksal zu ersparen.«
»Und? Was hat ihm dein Gott geantwortet?«
»Nichts.«
»Und was sagte Jesus dazu?«
»Er sagte: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe .«
»Jesus übernahm also keine Verantwortung für seine Entscheidung und schob die Schuld an seiner Hinrichtung seinem Vater zu?«
Kokatschin sah mich entsetzt an.
»Dein Gott hat seinen eigenen Sohn geopfert. Oder nicht? Du hast mir deinen Gott als einen Gott der Liebe und Vergebung beschrieben. Wieso richtet Gott solch ein verabscheuungswürdiges Blutbad an?«
»Er tat es zur Erlösung der Menschheit von ihren Sünden«, rief sie verzweifelt.
»Aber diese Sünden hat Gott durch die Erschaffung des Menschen doch selbst in die Welt gebracht! Dein Gott hat den Menschen erschaffen, wie er ist. Wenn er an seinen Handlungen etwas auszusetzen hat, hätte er sich das doch vorher überlegen können! Wieso zerschmettert er seinen eigenen Sohn am Fels der menschlichen Unwissenheit, nur um hinterher erstaunt festzustellen, dass der Mensch ist wie er ist?«
Читать дальше