»Schweig, Temur! Du weißt nicht, was du redest!«, rief sie.
»Ich weiß es sehr wohl, Mutter!«, sagte ich lauter als beabsichtigt. »Ihr seid so verblendet in Eurem Hass, dass Ihr Euch fürchtet, die Prophezeiung könnte wahr werden. Merkt Ihr denn nicht, dass Ihr selbst es seid, die die Prophezeiung wahrmachen wird? Nur weil Ihr so beharrlich schweigt, habe ich mich auf die Suche nach meinem Vater gemacht. Nur weil Ihr ein unergründliches Geheimnis daraus macht, werde ich bis jenseits des Horizontes nach ihm suchen. Und eines verspreche ich: Ich werde ihn finden !«
Wenige Tage nach Jesutais Abschied kam der Winter. Und mit dem Schnee kam ein Chin-Händler ins Lager.
Viele Abende verbrachte ich im Zelt des Händlers. Ich hatte noch nicht alle Worte vergessen, die ich vor Jahren gelernt hatte und konnte mich mit dem Chin mit einer Sprache, die zur Hälfte aus Mongolisch und zur anderen Hälfte aus Hanyu bestand, verständigen. Meistens lachte er wegen meiner Aussprache, die er sofort korrigierte. Stundenlang sang er mir die Wörter vor und erklärte mir ihre Bedeutung, indem er auf den entsprechenden Gegenstand deutete. Als er mir auf Mongolisch zu sagen versuchte, dass er stolz sei, mich Hanyu lehren zu dürfen, lachte ich Tränen. Irgendwann nach Tsagaan Sar begann er mich die ersten Schriftzeichen zu lehren.
»Sie kommen! Sie kommen zurück!«
Ich vernahm den Ruf der von den Weiden herangaloppierenden Pferdehirten, als ich in der Abenddämmerung in meine Jurte zurückkehren wollte. Ich hatte den Nachmittag mit den Chin-Händlern verbracht, die mir ihre Landkarten gezeigt hatten. Mit dem Finger auf dem Leder und in Gedanken war ich an diesem Tag in den westlichen Reichen von Xi Xia und Kara Khitai gewesen.
Ein Achtjähriger galoppierte durch das Ordu, schwang seine Reitpeitsche über dem Kopf und rief immer wieder: »Sie kommen! Sie werden hier sein, bevor die Sonne untergegangen ist! Sie haben schon die äußeren Weiden erreicht.«
Ich überlegte nicht lange, band Gal los, schwang mich in den Sattel und ritt den Kriegern entgegen. Am Zelt meiner Mutter machte ich kurz Halt. Mit der Reitpeitsche schlug ich auf das Filzdach der Jurte und rief: »Mutter, Mukali kehrt zurück! Ich reite ihm entgegen!«
Als sie im Jurteneingang erschien, hatte ich das Feuerpferd bereits gewendet und galoppierte davon. Viele Söhne und Töchter hatten die gleiche Idee wie ich und folgten mir.
Vor dem Ordu zügelte ich Gal und erwartete die anderen. Wir wechselten einige Bemerkungen, dann bildeten wir die oft geübte Formation. Zwanzig Jungen und Mädchen bildeten das Zentrum, die beiden Flügel bestanden aus zwei Reihen von Reitern, die wie die Schwingen eines Adlers leicht nach vorne geneigt waren. In dieser Aufstellung trabten wir über die Weiden, der untergehenden Sonne entgegen. Ich drehte mich um und sah die rotgoldene Staubwolke über dem Ordu schweben. Als Mukalis Krieger als kleine Punkte am Horizont auftauchten, gab ich das Zeichen zum schnellen Vorrücken.
Wir hieben alle gleichzeitig mit unseren Peitschen auf die Pferde ein, die in einen wilden Galopp verfielen. Der Wind wehte durch unsere Haare, der feine, aufgewirbelte Staub streichelte unsere Gesichter. Mit vornübergeneigtem Kopf rasten die Pferde über die flache Ebene, wir lagen in den Sätteln und beugten uns tief über die Mähnen unserer Tiere.
Als Mukalis Krieger noch dreihundert Schritte von uns entfernt waren, befahl ich: »Angriff!« In einer weiten Schwenkbewegung umzingelten wir die heimkehrende Karawane. Mukali zügelte sein Pferd und verfolgte mich mit seinen Blicken. Ich galoppierte hinter meinem rechten Flügel her, umrundete die umstellten feindlichen Truppen und kehrte hinter meinem linken Flügel wieder an meine Position zurück.
Mittlerweile waren die Heimkehrer unter lautem Johlen stehen geblieben und winkten und riefen ihre Söhne und Töchter, ihre Brüder und Cousins. Aus meinen Reihen wurden versteckte Grüße herübergerufen und verstohlen gewunken.
Direkt vor Mukali zügelte ich mein Pferd. »Seid Ihr zur Übergabe bereit, Noyan? Übergebt mir sofort die Beute, dann werde ich Euch freies Geleit zusichern!«
Mukali begann zu lachen. Ich lenkte Gal neben sein Pferd und setzte ihm die Spitze meiner Reitpeitsche an die Kehle, als wäre sie ein Schwert.
»Ich ergebe mich, Temur Noyan! Ihr könnt meine ganze Beute haben, aber lasst mich leben!« Mukali winkte mir, ihm zu folgen. Gemeinsam ritten wir an der Karawane der Heimkehrer entlang. Väter und Söhne, Brüder und Cousins hatten sich mittlerweile gefunden und fielen sich in die Arme. Meine Schlachtordnung hatte sich vollständig aufgelöst.
In der Mitte der Karawane ritt ein verschleiertes Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren. Sie hatte ihr Pferd gezügelt und betrachtete die Freude der Heimkehrer um sich herum. Als sie Mukali und mich auf sich zukommen sah, senkte sie den Blick und zog den Schleier aus weißer Seide über die Nase, sodass ich nur ihre großen Augen sehen konnte. Augen wie aus grüngoldener Jade. Sie schien zu wissen, wer ich war.
»Wer ist das?«, fragte ich leise.
»Das ist Kokatschin. Sie ist Togrul Khans Enkelin. Der Kereit Khan hat beschlossen, sie mit einem Mongol zu verheiraten und Dschingis Khan hat entschieden, sie dir zu geben«, erklärte Mukali.
» Mir ?«
»Ich habe Togrul Khan erzählt, er sei daran schuld, dass du noch keine Braut hast und er fühlte sich verpflichtet, diese Schuld zu begleichen. Und Dschingis Khan will dich für deinen Mut auszeichnen, ihn vor Dschamuga gewarnt zu haben. Deine Vermutungen waren zutreffend, Temur!«
»Auszeichnen?«, fragte ich.
»Eigentlich sollte Kokatschin Dschutschi heiraten, aber der Khan hat anders entschieden. Er will ein Bündnis mit Togrul.«
»Aber dann soll er doch einen seiner Söhne ...«
»Wird er auch, Temur! Aber er will meine Familie an sich binden. Und deshalb ist es sein Wunsch, dass du Kokatschin heiratest«, sagte Mukali in einem Tonfall, dem ich nicht zu widersprechen wagte. Jedenfalls nicht an diesem Tag.
Ich war immer davon ausgegangen, dass ich mir die Frau, die ich heiraten wollte, selbst aussuchen konnte. Zumindest die erste meiner Frauen! Ich ritt langsam auf Kokatschin zu. Nun verstand ich ihren Gesichtsausdruck. Sie wusste bereits, dass sie mich heiraten sollte. Was hatte ihr Mukali von mir erzählt? Hatte der Khan ihr seine Gründe erläutert, nicht Dschutschi zu heiraten? Ich war nun genauso verunsichert wie sie.
Ich hielt Gal direkt neben ihrem Hengst und beugte mich zu ihr herüber. Mit der linken Hand hob ich ihren Seidenschleier, um in ihr Gesicht zu sehen. »Ich bin Temur«, flüsterte ich ihr zu.
»Ich weiß«, flüsterte sie zurück.
Kokatschin hatte den Körper einer wilden Rose: schlank, zerbrechlich und wunderschön. Dass diese Rose auch Dornen hatte, lernte ich schnell. Ihre langen Haare fielen wie eine Kaskade aus schimmernder schwarzer Seide über ihre Schultern, nur gehalten durch einen schweren Silberschmuck über ihrer Stirn, dessen verzierte Ohrgehänge bis auf ihre Schultern fielen. Das Faszinierendste an ihr waren jedoch ihre grüngoldenen Augen, die wie die Jade eine Wärme vortäuschten, die dem kalten Stein nicht zueigen war.
Ich neigte mich zu ihr herüber und beroch sie hinter beiden Ohren. Sie roch gut. Nach Blüten. Und da war noch etwas. Angst. Sie war erregt und zitterte vor Angst. Ich ergriff ihre Hand und führte sie an meine Lippen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Kokatschin. Ich werde dir nicht wehtun.«
Wenn sie geahnt hätte, wie sehr ich ihr wehtun würde, hätte sie ihr Pferd gewendet und wäre zu ihrem Großvater zurückgeritten.
»Wir waren schon beinahe auf dem Heimweg, als uns Togrul Khan zurückrief.«
Ich schenkte Mukali seine Schale mit Arkhi voll. Er lehnte neben mir in den Kissen. Meine Mutter saß auf der Frauenseite und reichte uns Schalen mit Fleischbrühe. Kokatschin saß etwas abseits und beobachtete uns. Mich.
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