»Zur Macht. Zur Alleinherrschaft. Im Moment regiert er nur von unseren Gnaden. Wenn sich die Fürsten zur Abwechslung einig wären, könnten wir ihn jederzeit absetzen. Wir müssten uns nur auf einen neuen Khan einigen, ihn auf eine weiße Filzdecke stellen und ihn in den Himmel heben.«
»Und ... wer könnte dieser neue Khan sein, Vater?«
»Ich, mein Sohn. Ich werde dieser neue Khan sein!«
Ich ritt, als ob die Steppe hinter mir Feuer gefangen hätte. Der kühle Wind riss meine verwirrten Gedanken mit sich fort.
Jesutais weißer Hengst konnte mit meinem Feuerpferd kaum Schritt halten. Immer wieder warf mir mein Anda einen fragenden Blick zu, dem ich aber auswich. »Fliehen wir vor irgendjemandem, Temur?«, rief Jesutai zu mir herüber. »Oder hast du nur schlecht geträumt?«
Ich antwortete nicht und trieb das Feuerpferd zu noch schnellerem Galopp an. Jesutai folgte mir fluchend. »Hat die Nacht mit Morghan dir die Sprache geraubt?«
»Halt den Mund, Jesutai!«, schrie ich ihn an.
»Das tue ich seit wir heute Früh das Ordu verlassen haben. Seither hast du kein Wort mit mir gewechselt. Ich weiß weder, warum wir so überstürzt aufgebrochen sind, noch wo du eigentlich hinwillst.«
»Das weiß ich selbst nicht«, sagte ich so leise, dass Jesutai mich nicht verstehen konnte.
»Sprichst du mit dir selbst?«, rief er zu mir herüber.
»Ich denke nach!«, schrie ich zurück.
»Dann teil mir gefälligst deine Gedanken mit, wenn ich dir schon folgen soll!«
Als ich nicht reagierte, zügelte er seinen Hengst und blieb mitten in der Steppe stehen. Fluchend wendete ich Gal und ritt in einem weiten Bogen zu ihm zurück.
»Sprich mit mir! Vielleicht kann ich deine Gedanken verstehen, wenn du sie mir erklärst. Aber benutze bitte einfache Worte, denn ich bin nur ein Sterblicher und unternehme keine Himmelsreisen wie du. Warum reiten wir, als wäre das Heer der Chin hinter uns her?«
»Weil ich es eilig habe«, sagte ich und suchte den Horizont ab.
»Das wäre mir ohne deine Erläuterung nicht aufgefallen, Temur!«, sagte Jesutai sarkastisch. »Und wohin reiten wir? Weder mein noch dein Ordu liegen in dieser Richtung.«
»Wir reiten nicht nach Hause, Jesutai. Ich will zum Khan.«
Jesutai sah mich an, als hätte ich Hanyu mit ihm gesprochen. »Du willst zum Khan? Du willst mitten ins Schlachtgetümmel?«
Jesutais Begriffsstutzigkeit ging mir auf die Nerven. Er hielt mich nur von meinem Vorhaben ab. »Für einen Sterblichen begreifst du schnell!« Warum hatte ich ihn überhaupt mitgenommen? »Wenn du keine Lust hast, mich zu begleiten, kannst du ja zurückreiten zu deiner Mutter.«
»Wann hättest du dich herabgelassen, mich in deine Pläne einzuweihen? Was wollen wir überhaupt beim Khan?«
»Ich will ihn vor Dschamuga warnen. Er wird versuchen, den Khan umzubringen, weil er sich selbst wählen lassen wird.«
Jesutai schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht folgen«, sagte er und im ersten Augenblick wusste ich nicht, was er meinte. »Wir sind zu Dschamuga geritten, weil du überzeugt warst, dass er dein Vater ist. Das habe ich ja schon für reichlich verrückt gehalten. Und dann deine stürmische Affäre mit Morghan. Warum kriechst du mit deiner eigenen Schwester zwischen die Felle? Und jetzt dies ... Ich verstehe dich nicht, Temur.«
»Ich verstehe mich selbst nicht, Jesutai. Verwirr mich nicht noch weiter!«
»Das kann ich gar nicht, Temur. Das Chaos in deinem Kopf kannst nur du selbst überblicken. Wem versuchst du eigentlich treu zu sein? Dem Khan? Deinem Vater? Deinem Stiefvater?«
Ich hatte Dschingis Khan keinen Treueschwur geleistet. Noch nicht. Mit Dschamuga verband mich nichts. Fast nichts. Wenn er nicht mein Vater war, würde er vielleicht eines Tages mein Schwiegervater sein. Wenn Morghan mich dann noch wollte. Ich mochte Mukali, aber konnte er mir mehr sein als der Gemahl meiner Mutter?
» Mir selbst versuche ich loyal zu sein«, sagte ich. »Ich tue das, was ich für richtig halte.«
Jesutai sah mir in die Augen. »Das ist eine Aussage, mit der ich etwas anfangen kann. Ich bin dein Anda, Temur. Wenn du mich um meine Hilfe bittest, werde ich sie dir nicht verweigern. Das habe ich geschworen. Aber bitte mich und befiehl mir nicht, dir zu folgen!«
Er trieb seinen Hengst an und galoppierte an mir vorbei. Erst kurz vor dem Horizont konnte ich Jesutai einholen.
Meine Mutter sah nicht einmal von ihrer Näharbeit auf, als mein Anda und ich ihr Zelt betraten. »Du warst lange weg, Temur!«
Der Ritt ins Feldlager des Khan im Land der Kereit hatte fast eine Woche gedauert. Ich hatte Dschingis Khan vor Dschamugas Verrat gewarnt. Noch am gleichen Tag waren Jesutai und ich zurückgeritten.
Ich hatte mit mehr Vorwürfen gerechnet und nahm erleichtert am Herdfeuer Platz, um Jesutai und mir Airag einzuschenken.
»Wie geht es deinem Stiefvater?«, fragte meine Mutter.
Beinahe hätte ich meine Trinkschale fallengelassen. »Als wir ihn vor ein paar Tagen verließen, ging es ihm gut. Woher wisst Ihr ...?«
»Temur, du bist vor etlichen Wochen weggeritten, hast aber nur Proviant für drei oder vier Tage mitgenommen. Da du innerhalb dieser Zeit nicht zurückgekehrt warst, hatte ich angenommen, dass du dich im Lager von Toda aufhältst und bei Jesutai wohnst.« Meine Mutter wendete die kleine Deel, die sie für meine Schwester nähte, um die Naht zu prüfen. »Als du zwei Wochen weg warst, bin ich zu Toda geritten, um nach dir zu sehen. Toda war erstaunt über meinen Besuch. Er erzählte mir, dass du nur ein paar Stunden im Ordu warst und mit Jesutai weggeritten bist. Er wusste nicht wohin. Aber seine Frau wusste es.« Sie wendete die Deel erneut und hielt den schmalen Streifen aus Wolfspelz an den Kragen. Sie schnitt die überstehenden Enden ab und begann, den Streifen an der Deel festzunähen. »Ich bin zurückgeritten und habe auf dich gewartet. Oder auf eine Nachricht von dir.« Sie sagte das in einem Tonfall, als habe sie von mir nichts anderes erwartet. »Als ich annehmen musste, dass du nicht mehr wiederkommst, habe ich meine Mutter besucht.«
»Warum wart Ihr überzeugt davon, dass ich nicht wiederkomme?«
»Du bist auf der Suche nach deinem Vater, Temur. Hast du ihn gefunden?«
»Nein. Woher wusstet Ihr, dass ich bei Mukali war?«
»Ich habe Kökschu getroffen. Er hat dich gesucht und gefunden. Er hat mir gesagt, wo du warst.«
»Ihr habt mit Kökschu gesprochen? Ich dachte, Ihr hasst ihn ...«
»Ich hasse ihn nicht. Ich hatte ihm lediglich verboten, dich das Schamanen zu lehren. Aber da du es nun ohnehin gelernt hast und sich die Prophezeiung zu bewahrheiten beginnt ...« Den Schluss ließ sie offen. Sie hielt den Blick gesenkt. Tränen tropften aus ihren Augen auf die seidene Terleg.
Jesutai stand wortlos auf und ließ uns allein.
Ich setzte mich neben meine Mutter, legte das Nähzeug zur Seite und ergriff ihre warmen Hände. »Habt Ihr solche Angst, dass ich meinem Vater nachfolge?«, fragte ich sie sanft und wischte ihr die Tränen mit meinem Ärmel aus dem Gesicht.
»Ich habe furchtbare Angst davor, dass du so wirst wie er!«, schniefte sie. »Er ist so ... grausam. Er hat mich so gequält.«
»Wie hat er Euch gequält, Mutter?«
»Er hat mich mein Schicksal selbst wählen lassen. Ob ich bei ihm bleibe oder gehe. Er sagte, jeder Mensch sei frei zu gehen wohin er will. Als ich ihn daran erinnerte, dass meine Anwesenheit in seinem Bett nicht freiwillig gewesen war, lachte er unverschämt und sagte, er habe gedacht es hätte mir Spaß gebracht.« Ein Wildwasser von Tränen lief über ihr Gesicht.
»Hat es Spaß gebracht?«
»Ja!«, sagte sie und wandte den Blick ab.
»Warum hasst Ihr meinen Vater dann? Er hat Euch nicht mit Gewalt festgehalten und im Bett ...«
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