"Wir hätten dich von ihr reißen, unsere Dolche in deinen brünstigen Leib stoßen können. Doch es war zu spät." Tammos Unschuldsmiene ließ die Lüge wie Wahrheit wirken, trieb Tahnker zur Verzweiflung.
"Nein, es ist nicht zu spät. Bindet eure Schwester los und lasst sie Rache an mir nehmen", flehte er.
"Willst du sie ein zweites Mal beleidigen, womöglich mit deinem Kind im Leib zurücklassen, während du in die Hölle fährst?" Tammos Stimme überschlug sich fast, während Tahnker am ganzen Leibe zitternd, jeden Stolz verlor.
"Nein, du wirst sie losbinden, so wie du sie festgebunden hast. Du wirst sie jeden Tag um Verzeihung bitten, wirst sie behüten wie deinen Augapfel. Und du wirst immer daran denken, welches Wissen wir mit dir teilen." Mit sichtbarer Schadenfreude zeigte Tammo an, dass Tahnkers Leben von nun an fremdbestimmt, sklavisch, in ständiger Furcht verlaufen würde.
"Nimmst du sein Opfer an?", fragte der große Bruder die entehrte Schwester und zeigte sichtbar auf seine Brust, auf die Stelle, an der Gis das Brandzeichen trug.
"Ich nehme es an", schluchzte Kaya und rieb sich die Gelenke, die Tahnker nacheinander von ihren Banden befreite.
"Dann zieh dein Kleid über und komm mit. Bei Sonnenaufgang wird dich Frysunth dem übergeben, dem du seit letzter Nacht ohnehin gehörst." Tammo warf Kaya das grobe Gewand zu, welches sie voller Scham über den schmerzenden Körper streifte. Bald würde sie es gegen Festtagskleider tauschen, äußerlich rein und unbefleckt erscheinen, von einem ahnungslosen Ziehvater einem gedemütigten Manne zur Frau gegeben, von einem ebenso ahnungslosen Vater Bonifatius vor dem Christengott vermählt werden.
Frysunth tobte, Altje schrie. Aufgeregt kam Vater Bonifatius herbeigelaufen. Sicher, es fiel den Eltern schwer, ihre Kinder aus dem Haus zu geben, vor allem, wenn sie so kräftige Arme hatten, so fleißige Arbeiter waren, wie es auf Kaya zutraf. Doch ganz so heftig musste die Trauer nun wirklich nicht ausfallen. Es ging schließlich nur um das Ziehkind.
"Beruhigt euch liebe Leute und Gott zum Gruße." Ohne Zögern und mit diesen Worten auf den Lippen betrat der Missionar des Dorfvorstehers Haus, worauf dieser ebenso wie seine Frau augenblicklich verstummten. Gis war geflohen, hatte die Liebe missbraucht, die Pläne der Zieheltern so radikal umgestoßen. Aussprechen konnten sie das nicht. Es gab nie einen Gis, jedenfalls nicht für Bonifatius. So warteten sie erst einmal ab, was der Christenpriester von ihrem Wortgefecht gehört, welches Wissen er bereits gesammelt hatte.
"Freut euch und schreit nicht vor Trauer. Eure Tochter geht aus dem Haus, aber sie geht an den Richtigen. Sie ist so ungestüm, so leicht verführbar. Ein älterer Mann wird sie lehren, sie auf dem Pfad der Tugend begleiten, nicht in jugendlicher Wollust, sondern auf gottgefälligem Wege mit ihr gehen."
"Ihr habt ja Recht." Aus Frysunths Worten sprach ehrliche Erleichterung. Der Gottesmann fasste sein und das Klagen seiner Frau zum Glück völlig falsch auf, führte es auf Kayas Heirat zurück, hatte offenbar weiterhin keine Ahnung von Gis Existenz. Und so schickte Frysunth sich an, mit brummendem Schädel, auch er hatte am Vorabend dem Bier sehr reichlich zugesprochen, die Hochzeit seiner Adoptivtochter wie vorgesehen zu feiern. Erntedank bildete einen würdigen Rahmen. Am Abend würden nicht nur alle Gäste, würden auch Braut und Bräutigam berauscht sein. Das schuf die beste Basis für den ersten Beischlaf. In solcher Nacht werden Helden gezeugt. Und obwohl Gis Flucht heftig schmerzte, dachte Frysunth bereits weiter, plante er bereits mit einem Enkel als Nachfolger. Seine leiblichen Töchter würden in andere Familien einheiraten. Tahnker hingegen hatte keine Familie. Das band Kaya für immer an ihn, ihren Ziehvater. Wenn nicht Gis den Hof übernahm, dann halt Kayas Sohn. So fand Frysunth die Lösung für eines seiner drängendsten Probleme, die Sorge um seine Nachfolge, um seinen Besitz. Das linderte die gekränkte Eitelkeit ein wenig. Daran, dass die angenommene Tochter ohne Kinder bleiben oder nur Mädchen gebären könnte, verschwendete der Vorsteher keinen Gedanken.
Als sei ihr ein böser Geist auf den Fersen, so lief Alitiksok durch den dichter werdenden Wald, in das Rot des Abends, in das Schwarz der Nacht, in das zarte Blau des jungen Morgens, über Wiesen und Felder. Gis lenkte sie nur wenig, wusste selbst nicht, wo sein Ziel lag, wusste nur, dass es weit weg, weit weg von Friesen und Franken, weit weg von allen Menschen sein musste. Eigentlich gab es für ihn nur einen guten Ort, das Reich der Toten. Doch von dort aus könnte er Kaya nicht helfen, könnte er die Schmach seines neuerlichen Versagens nicht tilgen. Andererseits konnte ihn der Tod noch immer einholen, jedenfalls wenn es ihm nicht gelänge, seine Fesseln zu lösen, das verängstigte Pferd von seiner Last zu befreien. Irgendwann würde es entkräftet zusammenbrechen und liegenbleiben. Und er würde unter ihm liegen, bis der Durst seinen Körper ausgetrocknet, das Licht seines Lebens ausgeblasen hätte. Wieder einmal befand sich sein Schicksal in den Händen der Götter.
"Willst du, dass ich lebe, so hilf mir, die Fessel abzustreifen", schrie er zu Saxnot und zerrte heftig an den gebundenen Füßen.
"Willst du, dass ich sterbe, so schenke mir ein rasches Ende", rief er weiter und klammerte sich noch fester an den dampfenden schwarzen Leib, seinen Todeswunsch Lügen strafend. Nein, sein Körper wollte nicht sterben, wollte nicht von Alitiksoks Rücken gleiten. Sterben wollte Gis gedemütigte Seele. Und sie ließ ihn weiter schreien, nach den Göttern rufen, diese, das Schicksal, das eigene Versagen verfluchen, bis noch lautere Schreie die seinen übertönten.
"Erschlagt ihn."
"Er bringt Unheil über uns."
"Einem Toten den Tod."
Gis verstummte. Alitiksok verlangsamte ihren Schritt. Eine wilde Horde jagte, vom Horizont kommend und auf dem abgeernteten Feld große Staubwolken aufwirbelnd, direkt auf ihn zu. Sie trugen Gabeln und Spieße, schienen bereit, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Gis verstand nicht, warum sie es auf ihn abgesehen hatten. Er verstand nur, dass sich der rasche Tod näherte. Hatten ihn die Götter erhört? Er zögerte zu fliehen. Die Götter hatten entschieden. Er sollte ihren Richterspruch annehmen. Doch es gelang ihm nicht, in Demutshaltung zu verharren. Sein Körper wollte leben. Er streckte seinen Hals, um in die Gesichter der Angreifer sehen zu können. Da erst erkannte er, dass nicht er, dass ein in raschem Schritt Hinkender, ein in langen groben Stoff Gekleideter, das offensichtliche Ziel der aufgebrachten Menge war. Er hatte solche Kleidung noch nie gesehen, gehört hingegen hatte er schon davon. Es war ein Aussätziger, der da um sein Leben rannte. Als dieser den Mantel abstreifte und auf seine Verfolger warf und die Getroffenen wie vom Schlag gerührt stehen blieben, wusste Gis, seine Vermutung traf zu. Er beeilte sich, Alitiksok zu wenden, der schrecklichen Szene zu entfliehen, hatte jedoch nicht mit Kraft und Schnelligkeit des Aussätzigen gerechnet, der sich just in dem Moment hinter ihm auf den Pferderücken warf, in dem die schwarze Stute lossprang. Wie das lebendig gewordene Böse klammerte sich der Mann an Gis, drückte er seine nackte Brust an dessen bloßen Rücken, jagte er ihm einen Schauer nach dem anderen über selbigen, schlimmste Gedanken von Verwesung bei lebendigem Leibe durchs Hirn. Gis hatte noch nie einen Aussätzigen gesehen. Jedoch erzählten die Alten von einem Krieger aus dem Südlande, der seine verkrüppelten Hände und Füße mit Lappen verhüllte, seinen ausgemergelten Körper in einem langen Mantel versteckte, eine hölzerne Klapper schlagend, um Wasser und Brot bat. Zum Dank für die Hilfe berichtete er, dass die Krankheit durch Berührung weitergegeben wurde, dass sie sich ja in Acht nehmen sollten, ihn oder seinesgleichen anzufassen. Wenig später starb der Mann, die Geschichte lebte jedoch weiter. War ein Kind unartig, drohte man oft mit dem Krüppel. Der Aussätzige wird dich holen, hieß es dann. All das ging Gis durch den Kopf, während Alitiksok einen guten Vorsprung herauslief, die Verfolger bald abschüttelte.
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