Natürlich wurde ich für seine Rettung ausgezeichnet und hatte sogar dadurch einige Privilegien im Heim. Bis eben zu jenem Tag, als ich mich vom Heim unerlaubt entfernte und selbst einen Unfall verursachte.
Ja, es gab schon dann und wann einen Tritt mit dem Spann gegen meine Pobacken, aber so drastisch, wie sie dann folgten, nie.
Nach dem Unfall ließ unsere singende Erzieherin keine Gelegenheit aus, ihrem Hobby zu frönen. Manchmal konnte man bei ihren Tritten so etwas wie einen Freudenschrei vernehmen.
Ihre Tritte waren oft und heftig, sodass ich mitunter Blut in meiner Unterhose hatte. Selbst mein täglicher Toilettengang wurde zur Qual. Ein Abheilen der Risse im Afterbereich war durch das ständige Nachtreten fast nicht möglich.
Ab sofort stand ich nach Möglichkeit immer, wenn Frau Hoffmann Dienst tat, mit dem Rücken zur Wand oder passte auf, dass sie nicht hinter mir stand – schon gar nicht, wenn ich mich bückte. Aber egal, wie ich mich vorsah, ich hatte die Arschkarte.
All diese Misshandlungen machten mich aufsässig. Den Anweisungen kam ich nur noch spärlich nach und entfernte mich auch unerlaubt vom Heim. So kam es, dass ich des Öfteren zum Heimleiter zitiert wurde. Meine Beschwerden wurden mit einem Augenrollen vom Heimleiter abgetan und ihnen wurde, erwartungsgemäß, nicht nachgegangen.
Über all meine Probleme unterhielt ich mich mit meiner Freundin, aber nicht über die Tritte und deren Ausmaße. Es war mir so was von peinlich, ich schämte mich regelrecht, ihr alles zu erzählen.
Alle Sorgen waren fast weg, wenn ich mit meiner Freundin zusammen war. Sie war es auch, die dafür sorgte, dass mein Stubenarrest aufgehoben wurde. Sie war einfach super und immer so verständnisvoll, eben meine Freundin.
Spezialkinderheim Werftpfuhl (Johannaheim)
Aber dann kam der Tag, an dem sich alles in meinem Leben ändern sollte.
Während der schönsten Zeit, zu der Zeit, an der man sich halbwegs wohlfühlte – vor dem Weihnachtsfest –, musste ich wie so oft zum Heimleiter. Und noch in derselben Stunde, also von jetzt auf gleich, sollte ich alles zurücklassen, was mir lieb und teuer war. Nichts durfte ich mitnehmen und ein Verabschieden wurde erst gar nicht zur Diskussion gestellt. Im Prinzip wurde mir gar nicht erzählt, was mit mir passieren würde und wo es hinging. Das Auto wartete schon und dann ging alles sehr schnell.
So richtig begriffen, was da passierte, hatte ich das damals wirklich nicht. An alles Mögliche dachte ich, aber nicht, dass es die letzten Minuten sein würden in Kipsdorf.
Zuerst kam ich in ein Durchgangsheim nach Berlin Alt-Stralau, dort blieb ich dann bis nach den Weihnachtstagen.
Zunächst hatte ich im Durchgangsheim meine Ruhe. Aber schon am vierten Tag bekam ich die volle Härte der sozialistischen Erziehung zu spüren. Aus mir unerklärlichen Gründen schoss eine Erzieherin auf mich zu, schleuderte mich zu Boden, griff meinen Kopf und schlug mich mit dem Gesicht auf den Boden auf. Dabei verlor ich einen Zahn. Nicht, dass ich irgendwie ärztlich behandelt oder mit sonst Mitleid zuteil wurde. Im Gegenteil, ich musste bei einem Erziehungsleiter antreten und wurde noch gemaßregelt. Von ihm erfuhr ich dann auch, dass ich in ein Spezialheim verlegt würde. Mehr war nicht!
Durchgangsheim Alt-Stralau Berlin
Meine Hoffnung war, dass mir die Tritte aus Kipsdorf und die Schläge, denen ich in Alt-Stralau nun ausgesetzt war, im neuen Heim erspart blieben. Ich sollte mich irren.
Ich kam in ein Heim, wie ich später erfuhr, für Psychodiagnostik und psychologische Therapie – jenes angekündigte Spezialheim. Wahrscheinlich war das die Quittung für mein Verhalten auf die mir zuteilgewordenen Zuwendungen durch das pädagogische Personal.
In den Morgenstunden, gleich nach dem Frühstück mit Marmeladenstulle und Muckefuck, ging die Reise in mein neues Zuhause los.
In meinem neuen Heim angekommen, musste ich in der Eingangshalle warten. Sofort fiel mir ein großes Bild an der Wand auf, welches in mir Hoffnungen, dass es mir hier besser gehen wird, aufkommen ließ. Zu sehen war eine Frau, die ein Kind auf den Armen hielt.
Lange konnte ich mich an diesem Bild nicht erfreuen. Ein kräftiger Herr schrie in einem schroffen Befehlston: „Mitkommen!“
Ich zuckte zusammen und muss ihn dann angesehen haben wie ein Kind, das den bösen Kasper gesehen hatte. Jedenfalls stand ich da, wie durch denselbigen erschrocken, halb gebückt und beide Arme über dem Kopf. Jener Brüller packte mich dann unsanft am Kragen und schob mich vor sich her, erst die langen Gänge entlang, dann die Treppen hoch bis in die oberste Etage zur Wäschestube. Von ihm bekam ich meine neue Wäsche. Noch meine Sachen in den Armen haltend, schob er mich unsanft die Treppen runter bis in den Flur vor einen großen Waschraum.
Er befahl mir, in den Waschraum zu gehen, was ich auch tat. Mit einem Getöse folgte mir ein Stuhl, den er mit einem Tritt unter meinen Arsch stieß.
Ich konnte gar nicht anders, ich musste Platz nehmen.
„Du wartest hier, ich bin gleich zurück“, sagte er in strengem Ton und verließ den Raum. Zurück kam er mit einem elektrischen Haarschneidegerät.
„So, dann werde ich dir mal einen anständigen Haarschnitt verpassen. Bei uns trägt keiner lange Haare“, sagte er mit einem hämischen Grinsen. Er legte los und ich sah rechts und links von mir meine Haartracht fallen. Was ich anschließend im Spiegel sah, konnte ich nicht fassen. Man hatte mir eine Bombe geschnitten. Meine Haare waren immer etwas länger und zu einer schicken Tolle gekämmt, so jedenfalls liebte es Marianne
Bildnis von Johanna mit Kind aus der Eingangshalle
Aber jetzt trug ich sie koppelbreit über den Ohren und der Rest wurde mir zwei Millimeter vor der Schädeldecke gekürzt. Ich sah aus wie ein HJ-Junge.
„Was ist mit dir, gefällt es dir etwa nicht, was du da siehst. Am besten, du gewöhnst dich an diese Frisur, denn die Matte kommt jeden Monat ab. Zieh dich jetzt aus. Gleich kommt jemand und sorgt dafür, dass du deinen Dreck loswirst.“
Nackt stand ich nun in dem kalten Waschraum und wartete, was jetzt so auf mich zukommt.
Und es kam auf mich zu … Ich wurde stumm, von einer kräftig geformten Frau, in einen großen Duschraum geschubst, der gleich an den Waschraum anschloss und unter die Dusche gestellt.
„Fünf Minuten!“, schrie sie, „fünf Minuten zum Duschen und keine Minute länger, dann wird das Wasser abgestellt!“
Das Wasser war nur lauwarm, um nicht zu sagen, kalt. Es hatte sich nicht einmal Dampf gebildet oder die Spiegel beschlagen lassen.
Als ich dann eingeseift war, ging das Wasser tatsächlich aus. Über und über war ich mit Seifenschaum bedeckt. Ein Waschlappen, um mich halbwegs von der Seife zu befreien, stand nicht im Angebot.
„So, abtrocknen und das Ganze zack, zack“, sagte jene massige Frau zu mir und wies auf ein Handtuch, welches ich als solches nicht gleich erkannte.
„Das ist doch kein Handtuch“, dachte ich. Mit so einem Tuch habe ich immer Geschirr in Kipsdorf abgetrocknet, nur dass dieses hier dunkel war.
„Ich bin noch total voll Seife“, fügte ich kleinlaut hinzu.
„Fünf Minuten, sagte ich doch“, war ihre lautstarke Antwort darauf.
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