Nach Jahren der Isolation endlich das Wiedersehen mit Matt
Als es pünktlich um zwei Uhr läutete, durchwehten mich Fluchtgedanken. Dann straffte ich mich und biss die Zähne zusammen. Mein Herz pochte zum Zerspringen, das Ticken der Uhr brannte in meinen Ohren. Auf der Türschwelle konnte ich vor Verlegenheit und Aufregung nichts sagen. Vor mir stand ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann mit struppigem, blondem Haarschnitt, tiefblauen Augen und einer kecken Stupsnase. Er hatte meine zart geschwungenen Augenbrauen und die rechte Schulter zog er auch hoch, so wie ich es tue, wenn ich verlegen bin. Er trat zwei Schritte vorwärts und reichte mir mit einer schnellen kleinen Verbeugung einen Blumenstrauß, Sonnenblumen, wie ich sie liebte. Woher wusste er? - Oh Gott, es war Matt, mein wunderbarer, schöner, lieber Sohn Matt!
"Guten Tag“, sagte er. "How do you do?"
Himmel, wie förmlich! Ein scharfer Schmerz durchfuhr mich. Während ich in meiner Verlegenheit nur wirres Zeug stottern konnte, wurde mir immer bewusster, wie kühl seine Miene war, wie verschlossen er wirkte. Er war unglaublich höflich und gut erzogen, half mir mit dem Teeservice, lobte meine Kekse und saß kerzengerade in meinem Ohrensessel, die langen Beine unter dem Couchtisch verkrümmt, den Blick auf mich geheftet wie auf ein Insekt.
Allmählich wurde es mir klar: Er fühlte sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Er machte einen Pflichtbesuch, mehr nicht, wie bei einer entfernten Verwandten, zu der man höflich und freundlich war, aber mit der einen nichts verband. Nun, wie hätte er auch etwas empfinden können, sagte ich mir leise, aber die Erkenntnis tat furchtbar weh. Zuerst siezte er mich sogar, bis ich mir dies verbat. Noch hatte ich ihn nicht einmal in die Armenehren können und sehnte mich doch so danach. Er hielt Distanz, war fast unnahbar, eine Liebkosung hätte ihn vermutlich peinlich berührt.
"Ich habe gerade mein Grundstudium beendet“, berichtete er mit wohlgesetzten, freundlich-sachlichen Worten, "Jura, sagt man wohl bei euch. Ich will Attorney werden, ja, ähm, Anwalt. Granny, also meine Großmama, hat mir diese Reise nach good old Europe geschenkt, weil ich Jahrgangsbester war. Da dachten wir, ich sollte auch meine alte Heimat kennenlernen, dich besuchen, schauen, wie es dir geht. Ich bleibe einen Tag in Stuttgart, dann geht es weiter ins Elsass, nach Südfrankreich, von dort nach Spanien.."
"Wie kommt es, dass du so gut deutsch sprichst?" unterbrach ich ihn verwirrt. '"Oh, auf dem College... ", antwortete er mit einer Stimme, die kühler nicht sein konnte, und erzählte von seinen Fächern. Ich nahm es gar nicht wahr, denn in meinem Innern murmelte eine bitterböse Stimme: Er wollte gar nicht DICH sehen, er besucht dich nur am Rande, so wie er Heidelberg und die Loreley besuchen könnte und du bist für ihn nicht einmal eine Sehenswürdigkeit. Das war es. Ich war wie erschlagen. Aber ich wollte mir keine Blöße geben, nur jetzt nicht weinen, nicht gekränkt sein, reiß dich zusammen, ermahnte ich mich und versuchte ein schiefes Lächeln.
Als ich ihm vorschlug, einen Spaziergang im nahen Schlosspark zu machen, stimmte Matt sofort zu. Eine Nacht wollte er hier bleiben, eine einzige Nacht. Meine letzte Chance, die sich in diesem Leben wohl nicht wiederholen würde. Doch wie sollte ich diesen dicken Panzer an zuvorkommend-kühler Gleichgültigkeit durchdringen?
Unser Wiedersehen in Gewitterstimmung endete beinahe in einer Katastrophe
Im Schlosspark war es still, nur noch ein paar wenige Menschen flanierten auf den geharkten Wegen. Der Himmel hing tief, scharf gezeichnete Wolkenbahnen zogen schöne dramatische Muster zum Horizont hin, es war ruhig, beinahe lautlos, als hielte die Natur den Atem an. Wo waren die Vögel geblieben? Ein paar flüchtige Spaziergänger umkreisten uns, als seien wir nicht vorhanden. Die Luft war schwül aufgeladen „Es scheint sich ein Gewitter zusammenzubrauen“, flüsterte ich ihm zu. Als die ersten schweren Windstöße Laub von den Bäumen holten, schien mir, als ob die ganze Atmosphäre meine innere Verfassung wiedergab: ein Gefühl von Bedrohung und Katastrophe.
Matt ging einen Schritt hinter mir her, er war in Gedanken, wir schwiegen beide beklommen. "Sollen wir nicht besser zurück? Es wird bald regnen", meinte ich. Plötzlich machte ich mir Sorgen.
Aber Matt wollte die Redoute sehen, na klar, sein Pflichtprogramm, er zückte sogar einen Reiseführer, und so bewegten wir uns wie zwei Marionetten weiter auf den abgezirkelten Kieswegen und gaben vor, den Spaziergang zu genießen. Der Gesprächsstoff war uns schnell ausgegangen, mir aus einem tiefen Gefühl der Vernichtung heraus, Matt wohl aus Langeweile oder Desinteresse, beides schien mir gleichermaßen fürchterlich.
Die früh einsetzende Dämmerung wurde vom ersten Blitz grell durchzuckt. Der nachfolgende Donner fuhr mir in die Glieder, auch Matt schien jetzt sehr angespannt zu sein. „My Goodness“, sagte er, „das sieht nach einem Tornado aus!“ Er grinste ein wenig schief, wie um mich zu beruhigen. Wie gerne hätte ich ihn jetzt umarmt. Doch wir beschleunigten unsere Schritte und bewegten uns auf einen Pavillon zu, der in einiger Entfernung aufleuchtete. Ein Donner rollte über den Park.
"Lass uns dorthin laufen“, schrie ich jetzt beinahe, „da, zum Pavillon - er bietet uns Schutz."
Der Wind böte mächtig auf, eine unsichtbare Kraft schob uns kraftvoll vorwärts, die Atmosphäre war plötzlich angefüllt mit unheimlichen Geräuschen. Schon prasselten die ersten Wassertropfen. Blitze liefen rasch nach einander über einen fast schwarzen Himmel. Der Sturm raste heran, stärker als erwartet. Die Allee, durch die wir jetzt gingen, wurde von steinalten Eichen bekrönt. Normalerweise hätte ich diesen Anblick geliebt, aber jetzt trieb mich eine unerklärliche Angst vorwärts.
Matt lief neben mir. "Schließ deine Jacke, mein Junge“, rief ich ganz automatisch, "du wirst sonst nass." Seltsamerweise befolgte er es und blieb einen kurzen Moment stehen, wie um in die Höhe zu horchen. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie er sich die Regenjacke zuknöpfte und den Kragen hochklappte. In den Höhen der Alleebäume rumorte es im starken Anprall des Sturms. Plötzlich ein grässlich lautes Knacken, ein Brechen und Splittern - In einem jähen Impuls wandte ich mich ganz nach Matt um und sah im Schein eines grellen Blitzes einen gewaltigen Eichenbusch nieder rasen. Mit einem wilden Aufschrei riss ich Matt zur Seite und umklammerte schützend seinen Kopf. Das schwere Gebälk krachte direkt neben meinem Sohn auf dem Boden auf; es hätte ihn umgerissen und sicherlich schwer verletzt, das war klar. Matt zuckte zurück, totenblass, der Schrecken machte uns beide stumm.
Dann hielten wir uns plötzlich fest umschlungen, eine Ewigkeit lang. Ich streichelte Matts Gesicht, seinen Nacken und drückte ihn fest an mich. Als würde ein Gletscher schmelzen, so fühlte es sich nun zwischen uns an, warm und pulsierend. Ich spürte, dass Matts Körper sich entspannte, wie er seinen Kopf an meine Schulter legte und zu schluchzen begann. "Mummy“, flüsterte er dann, "Mummy, warum hast du mich damals im Stich gelassen? Warum?"
Ich weiß nicht mehr, wie wir nachhause gekommen sind. Auf dem Weg sprachen wir uns endlich aus. Alles, was sich in 17 Jahren aufgestaut hatte, lag nun offen vor uns. Und ich erfuhr von der ungeheuerlichen Lebenslüge meines Ex-Mannes; John hatte Matt ein Märchen erzählt, dass seine Mutter sich geweigert hätte, mit in die Staaten zu gehen, weil sie frei sein wollte für einen anderen Mann. Dass sie sich gegen ihren eigenen Sohn entschieden hätte. Dass sie immer eine schlechte Mutter gewesen wäre. Dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte. Meine früheren Briefe, auch dieser wichtige letzte, waren nie in Matts Hände gelangt. John musste nicht einmal befürchten, dass ich es jemals erfahren würde: "Mummy, Dad kennt meine Reiseroute gar nicht. Er hätte es auch nicht erlaubt, dass ich nach Deutschland reise, zu Dir. Ich habe allerdings darauf bestanden, Granny war auch dafür. Aber ich hatte solche Angst, du könntest mich zurückweisen. Und alles umsonst wäre."
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