Ich nickte. "Nein, besser nicht. Es tut zu weh."
Der Arzt ließ mir Zeit. Vor dem Fenster wiegte sich ein Meisenpärchen auf einer Birke. Heller, lichter Frühling. Die Märzsonne wärmte schon, das erste helle Grün spross an den Zweigen.
Meine Lebensbeichte erleichterte mich sehr
Da brach es aus mir heraus: "Mein Sohn, Herr Doktor, mein Sohn Matthias, ich vermisse ihn so furchtbar. Er ist weit weg, und ich habe ihn seit 17 Jahren nicht mehr gesehen."
Nun, da sich die Schleuse geöffnet hatte, erzählte ich ihm alles. Als 20-Jährige hatte ich Hals über Kopf einen hier stationierten amerikanischen Soldaten geheiratet, bald danach wurde ich schwanger. Aber meine Familie lehnte John, den lässigen, schnoddrigen, lebenslustigen Filou, strikt ab. Ich meinte, ich müsste für meinen Mann einstehen, daher brach ich alle Bindungen zu meinen Eltern und meiner Schwester ab. Aber ich war von John abhängig, ich studierte ja noch an der Uni in Stuttgart. Unser Sohn Matthias - mein Goldjunge - wurde während eines längeren Aufenthalts bei Johns Eltern in den Staaten geboren. Er war also Amerikaner.
Zuhause in Deutschland fiel es mir schwer, Kind und Studium unter einen Hut zu bringen, vor allem, weil John sich wenig um den Haushalt kümmerte. Seine Freizeit verbrachte er mit seinen Kameraden bei Baseball und Cricket, mich nahm er dazu nicht mit. Seinen Sohn verwöhnte er allerdings, wo er konnte. Was hab ich für ein Glück, dass mein Sohn einen so guten Vater hat, dachte ich oft. Als Kind hatte ich mit ansehen müssen, wie mein oft betrunkener Vater meine Mutter schlug, wie meine Mutter sich aus seelischer Erschöpfung früh verbrauchte. Das hatte sich in meinem Körper eingebrannt. Eine heile Familie, das war es, wovon ich träumte.
Meine Ausbildung bedeutete mir nicht viel, das Studium fiel mir nicht leicht, nach meinem Abschluss sollte Matt auf keinen Fall ein Einzelkind bleiben. Einen Großteil meiner Zeit verbrachte ich auf dem Weg zur Uni, in staubigen Seminarräumen und mit Studienkollegen in der verräucherten Mensa, wo wir uns gegenseitig Tipps gaben, bei welchen Professoren man sich prüfen lassen sollte und bei wem besser nicht.
Aber auch als Hausfrau und Mutter war ich kein Vorbild. Irgendwie glitt mir alles aus der Hand. Matt wurde mit eineinhalb Jahren in den amerikanischen Kindergarten aufgenommen, er sprach früher englisch als deutsch. Mit seinem Vater schmuste er viel, mit mir war er eher abweisend. Am liebsten tobte der kleine Rabauke auf seinen kurzen Beinen im Indianerkostüm oder als Cowboy durch die Wohnung und verschaffte sich lautstark Gehör. Als ich mein Studium endlich abgeschlossen hatte, war ich so erleichtert und stolz, dass ich nicht merkte, wie sehr John und ich uns entfremdet hatten, und verschloss die Augen davor, dass mein Sohn mit mir nicht viel anfangen konnte.
Die Nachricht, dass John in die Staaten zurückversetzt werden sollte, traf mich wie ein Keulenschlag. Gerade stand ich vor meiner ersten Stelle als Gymnasiallehrerin in meiner Heimatstadt antreten können und nun sollte ich alles aufgeben? Aber es kam ganz anders: John teilte mir in kühlen Sätzen mit, dass er keinesfalls vorhatte, mich in seine Heimat mitzunehmen; er forderte die Scheidung und seinen Sohn würde er natürlich mitnehmen, Matt sei ja sowieso mehr Amerikaner als Deutscher. „Dein Recht als Mutter hast du verwirkt, du hast dich ja kaum um das Kind gekümmert“. Einer seiner Kameraden erzählte mir sehr viel später, dass John damals schon längst eine Beziehung zu einer weiblichen Armeeangestellten eingegangen war. Ich war längst ersetzt worden. Diese Anny würde natürlich auch zurückgehen, zusammen mit John und meinem damals fast 5-jährigen Sohn.
Für mich brach eine Welt zusammen
In meiner Not machte ich John eine wilde Szene, in der ich kreischend vor Wut und Schmerz mit Töpfen und Tellern warf und die Hälfte unseres Hausrats zerschlug. Matthias musste diesen schrecklichen Vorfall mit weit aufgerissenen Augen über sich ergehen lassen. Er klammerte sich an seinen Vater und beobachtete mich aus seinen dunkelblauen Augen mit sichtbarem Entsetzen. „Du bist eine Zumutung für mich!“ Johns waren ja bereits gepackt Koffer. Er verließ mit meinem Sonn unsere Wohnung, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte. Der Polizei, die er noch rief, sagte er mit einer Stimme, die vor kühler Verachtung klirrte: „Meine Frau - bald Ex-Frau - hat versucht, dem Kind etwas anzutun“. Diese gemeine Lüge konnte ich zwar im Verhör entkräften, aber die Polizei stellte mich dem Amtsarzt vor und dieser ließ mich für einige Wochen in eine Nervenklinik einweisen. Zu diesem Zeitpunkt zerbrach etwas in mir - der Rest meines Selbstwertgefühls! 17 Jahre waren vergangen, in denen ich meinen Sohn nicht ein einziges Mal sah. Anfangs schrieb ich Matthias noch sehnsüchtige Briefe, aber da ich darauf nie eine Antwort bekam, erlahmte mir der Mut. Einsamkeit, Schuldgefühle und das Warten auf ein Lebenszeichen hatten mich über die Jahre zu einem nervlichen Wrack gemacht. Ich glaubte nicht daran, Matt jemals wieder in die Arme nehmen zu können. Und der Tag, an dem ich in der Schule zusammenbrach, war sein 22.Geburtstag.
Als ich meinen Bericht geendet hatte, sah mich Dr. Waldheimer mitfühlend an. "Barbara, es gibt nur einen Weg, Sie müssen zu Ihrem Sohn Kontakt aufnehmen. Und das am besten noch heute. Es gibt bestimmt eine Brücke zu ihm. Selbst über den weiten Atlantik hinweg. Sie müssen Ruhe finden.“
Endlich fasste ich einen Entschluss, der Folgen haben sollte
Der junge Arzt hatte in mir etwas bewegt. Zuhause zögerte ich noch eine Weile, dann raffte ich mich auf und schrieb meinem Sohn einen langen Brief. Noch hatte ich nicht vor, ihn auch wirklich abzuschicken, nein, ich wollte mir einmal alles von der Seele reden, was in mir brannte. Dass ich ihn von Herzen liebte, dass er - auch wenn es nicht so ausgesehen habe - immer das Wichtigste in meinem Leben gewesen sei, dass es mir weh tat, nicht zu wissen, wie es ihm ging, wie er aufgewachsen war oder ob seine neue Familie - er hatte mittlerweile zwei Stiefgeschwister - auch wirklich zu ihm gut war, und vor allem - ob er mich nicht einmal besuchen könnte.
Als der Brief vor mir lag, schämte ich mich erst, weil ich mein Innerstes so weit geöffnet hatte, meinem eigenen Kind, von dem ich so gar nichts wusste. Lange trug ich ihn verschlossen und frankiert in meiner Tasche. Eines Tages, es war im Juli und draußen glühte die Luft – da hielt ich es nicht länger aus. Ich nahm den Umschlag an mich und warf ihn ein. Als er im Briefschlitz verschwunden war überfiel mich Angst. Sollte ich ihn nicht wieder herausfischen? Dann beließ ich es dabei. Eine Antwort erwarte ich ja doch nicht, sagte ich mir in der Selbsttäuschung, die mir zur zweiten Haut geworden war. Insgeheim fieberte ich jedoch einem Lebenszeichen von Matt entgegen.
Nach ein paar Monaten war ich schon entschlossen, alles zu vergessen, da läutete an einem stickigen Sonntagvormittag das Telefon. Wer sollte es schon sein? Höchstens eine Bekannte, die es wie ich leid war das Wochenende allein zu verbringen. Oder meine Mutter, die seit Vaters Tod im Seniorenheim lebte. In dieser Minute schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und ich lauschte gebannt und mit plötzlich heftig pochendem Herzen einer gebrochen deutsch sprechenden jungen Stimme: "Hi, this is Matt. Oh yeah, German Sprach ist schwer. Ähm .. Ich bin in der Stadt, kann dich besuchen, wenn es dir angenehm ist. Komme so gegen zwei. Okay? Passt das? " Kleine Pause. Dann unterbrach der Pfeifton. Die Aufnahmezeit war zu kurz. Ich stürzte ans Telefon, doch Matt hatte schon aufgelegt.
Großer Gott, Matt würde kommen??
Als ich aus meiner Erstarrung erwachte, sah ich auf die Uhr. Das war ja schon in zwei Stunden! In plötzlich einsetzender Panik musterte ich die Wohnung, die mir jetzt besonders schäbig vorkam. Das abgewetzte Sofa - hätte ich das nicht schon längst mal ersetzen können? Die Vorhänge - lange nicht gewaschen, die billigen Stiche an der Wand? Plötzlich sah ich, wie sehr ich mich in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Würde Matt das nicht alles furchtbar finden? Und ich selbst? Ich sah an mir herab. Umziehen, schnell, Haare waschen - reicht die Zeit noch? Im Spiegel sah mich ein erregtes Gesicht an, mit roten Flecken auf den Wangen, verschreckten Augen. Irgendwie gelang es mir dann tatsächlich, mich mit einer heißen Dusche, Rouge und Lockenstab in einen Zustand zu bringen, den ich als ganz okay bezeichnen würde; der neue rote Pulli stand mir gut, die enge schwarze Hose auch; Matt sollte seine alte Mutter nicht hässlich finden. Wo war meine kleine Perlenkette? Mit fahrigen Fingern nestelte ich am Verschluss. O Gott, ich hatte Angst vor meinem eigenen Sohn. Was würde passieren? Ich löffelte eine Tasse Melissentee und versuchte, meine fliegenden Nerven zu beruhigen.
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