Im Traum kam ein „Leintuchgeist“ auf ihn zu. Ezra war sich voll bewusst, dass es sich um einen Leintuchgeist handelte. Als Kind hatte er erkannt, dass Tiere in Gruppen und Ordnungen eingereiht wurden, und er fand es daher richtig, dass man das mit den vielen Geistern auch tat. Leintuchgeister schwebten unter einem Leintuch, hatten zwei schwarze Augenlöcher, und dieser Spezielle hatte auch Füße. Die steckten in langen schmalen Schuhen, etwa einen Meter lang und schwarz mit einer schwarzen Quaste an der Spitze. Es waren Schnürschuhe und über dem rechten Knöchel hatte er eine rote Wunde. Er hatte etwas wie einen breiten Zylinder auf dem Kopf und im Arm hielt er schwarze Babies mit runden Augenlöchern. Sie erinnerten an das schwarze Baby der Madonna. Es war sehr beunruhigend. Alkoholische Hitze stieg hoch. Angst wickelte ihn ein.
Mit heiserer Stimme sagte der Leintuchgeist mit Schuhen: „Komm her zu mir“. Ezra wollte nichts wie weg. Aber seine Füße konnten sich nur ganz schwer und langsam bewegen, er kämpfte wie in zäher Masse steckend und konnte mit aller Kraft nur zentimeterweise seinen Fuß vorwärts bringen. Eine schwarze Knochenhand kroch unter dem Leintuch vor und bewegte sich auf ihn zu. Der Geist hatte drei Hände. Zwei hielten die Babies und eine langte nach ihm. Die Panik verteilte sich brennend im ganzen Körper. Da beschloss er, aufzuwachen. Er drückte fest die Augen zu und wusste, davon wurde er aus diesem furchtbaren Land hinausgeschwemmt und meist in sein Bett. Manchmal auch in ein anderes Land. Alles war besser als der Geist, der nach ihm griff. Er wachte auf, den Geruch von Pferd und Alkohol in der Nase. Es war schon hell.
Er rollte von seinem Strohhaufen und ging ans Fenster. Die Gipfel der Berge im Westen waren goldfarben. Sonst lag alles ruhig. Es war also ziemlich früh. Er sah zu dem geschnitzten Haus hinüber. Dort brannte „sein“ Licht unverändert. Das konnte doch wohl nicht sein! Er war vor einem knarrenden Balken geflüchtet.
Nun schien er hier der Boss zu sein, nicht der Gejagte. Er war allein, bis auf den Geist einer ermordeten Frau im ersten Stock von Haus 1.
Er ging über den Hof zu der Häusergruppe in der saftig grünen Wiese. Diese Gebäude waren niedrig und breit, mit tief herabgezogenen Dächern. Dick und beschaulich schliefen sie unter ihren gewaltigen Hüten in einer kleinen Senke.
Wie Gott wollte er seinen neuen Besitz benennen. Er gab der Häusergruppe den Namen „das Kloster“. Wo er geschlafen hatte, war das „Jagdschloss“. Das vierte Gebäude aus rotem Backstein nannte er „Fabrik“. Es glich aber auch einer missratenen Kirche. Auf einer Schmalseite erhob sich ein wuchtiger Turm, drei Stockwerke hoch, mit Kupferdach. Er konnte keine Türe sehen. Noch schlaftrunken machte er sich auf, in der Hoffnung auf einen Menschen, der ihm die Sache erklären konnte. Aber er plante gleichzeitig die Erforschung allein. Herr über vier prachtvolle Häuser auf Zeit. Er fühlte sich wie ein mächtiger König, der zwischen seinen Schlössern wählen konnte.
Gerade da schrumpfte seine Welt auf einen Ort zwischen Brustbein und Nabel. Sein Zentrum war in dem Moment ein sehnsüchtiges schwarzes Loch, das alles verschlingen würde. Jetzt wusste er, wie das mit der „Mitte“ war. Du musst deine Mitte suchen, sagten sie ihm in den Esoterikgruppen. Die Mitte finden war ganz leicht… Ja natürlich! Dort genau! Wo gibt’s Frühstück? Er wusste wo! Die großartige Küche in seinem Holzschloss - Haus 1.
War das zu riskant? War vielleicht doch jemand drin?
Der Platz zwischen den Häusern lag inzwischen im strahlenden Sonnenschein. Seine Türe hatte sich verschlossen. Er hatte fast damit gerechnet. Da war doch jemand. Oder hatte sein Mordopfer zugesperrt? Er war aber jetzt Jäger, nicht mehr Gejagter. Der Nagel, die Halle, nahm ihn in Empfang. War sie noch da? Ezra zwang sich die Treppe hinaufzusteigen und sagte dazu halblaut in Abständen „bitteschön…“ dann wieder lauter „Bitteschön!“. Das war der Anfang eines Satzes, der Gott sei Dank nicht notwendig wurde. Beim Stehlen in den Supermärkten hatte er gelernt, was Sicherheit war. Unschuldige blaue Augen, sanfte Stimme und eine erstklassige Ausrede – das sollte auch hier helfen. „…aber liebe gnädige Frau, ich habe nach Ihnen gesucht, laut gerufen, während ich die Treppe hochstieg, was hätte ich denn sonst noch machen können, ein Glas Milch, oder vielleicht nur Wasser – der Brunnen läuft nicht…“ Er erreichte die erste Etage, das Geländer fühlte sich staubig an. Staub sammelte sich an seinen Fingerkuppen. Ein kleiner Platz wölbte sich vom Treppenabsatz in den Bauch des Hauses. Am Boden der rote Kelim, der ein bisschen rutschte, und etwa drei Meter weiter die weiße Kontur – nur die Kontur.
Man hatte die Leiche weggebracht und das Haus zugesperrt – schon vor längerer Zeit.
Konnte man behaupten, dass er zurückgekehrt war an den Ort eines Verbrechens? Gab es eine wirklich gute Ausrede dafür, den glaubwürdigen Beweis, dass er den Mord nicht begangen hatte? Er wusste eines, dieses Geländer hatte länger keiner angegriffen. Der Mord war vielleicht schon verjährt. Er kehrte um und ging in Richtung Küche. Er musste in Ruhe denken. Das war die Aufgabe, aber zuerst kam sein verzehrender Hunger.
Sie, die Üppige, die Fürsorgliche, empfing ihn in all ihrer Schönheit, wie ein rundes, braunes Weib mit großen Brüsten. Er konnte verworfen, gierig, rücksichtslos sein, sie war mächtig und bereit. Was für eine Art von Mord konnte das oben an der Treppe gewesen sein? Erschossen? Erwürgt? Mit Sicherheit kein Messer, denn sonst hätte einer doch wohl dieses Messer genommen, das da auf dem Brett lag, zum Mordinstrument geschaffen.
Heute kein Pardon für diese Küche, er war der Mann, der dieses Weib entweihte. Die Erotik eines duftenden Schinkens nahm ihn gefangen. Das Damaszenermesser schnitt tief in den mürben Speck, und dazu Zwieback – mönchisch! Nicht nur pure Gier, die intellektuelle Verworfenheit dazu, die unter dem Deckmantel der Teufelsaustreibung den Phallus in die fetten Frauen senkt und Askese predigt. Bei jedem Bissen in den Zwieback fühlte er sich als Gottes Liebling, obwohl er ein Dieb war. Wieso oben an der Treppe? Hatte der Mörder die Ermordete verfolgt? Er fand Suppe in einer Dose. Die Salzlacke von seinen gestrigen Kartoffeln bildete eine feine weiße, ungestörte Wolke auf dem roten Boden.
Er fasste sich ein Kupfergeschirr mit Stiel. Der Herd produzierte keine rote Lampe – es war also nicht damit zu rechnen, dass er Suppe wärmte – Suppe kalt - nicht besonders erotisch besetzt. Denn die Lust und die Hölle fand man in Hitze, Sex und Fleisch. War das im ersten Stock eine männliche oder eine weibliche Kontur? Es war eine menschliche Kontur, mit Sicherheit, ob männlich oder weiblich war nicht so wichtig. Einem Menschen war Schreckliches zugestoßen, und er wollte herausfinden, was passiert war. Er könnte einfach ins nächste Wirtshaus gehen und fragen. Dort würde er die ganze Gerüchtesammlung bekommen.
Er wollte im nächsten Dorf fragen, aber nur mit Wissen in der Tasche. Der Mord war sicher schon vor einiger Zeit passiert. Er schlürfte die kalte Suppe aus einer zarten chinesischen Schüssel - durchscheinend weißes Porzellan.
Der Hof zwischen den Häusern lag still in der Sonne. Nichts regte sich, der See war ruhig. Er beschloss, das Haus gründlich zu durchsuchen, nicht wie die Polizei. Die staatliche Macht hatte nach Blut, Fingerabdrücken, Briefen, eventuellen Rechnungen gesucht, um einen Mord aufzudecken. Er wollte wissen, was für Gefühle hier gelebt hatten. Gefühle, die vielleicht geblieben waren, nach den Menschen.
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