Sie war gestorben und hatte die Pracht zurückgelassen im Leben, dachte Ezra und öffnete eine Dose Austern. Er fand ein Glas kleiner Kartoffeln und bewunderte seine Bescheidenheit im Anblick dieser Angebote. Nein, er berührte den prachtvollen Schinken nicht, er nahm nur, was mehrmals zur Verfügung stand. Schließlich war er Gast. Er konnte nicht mit diesem großen, schönen Damaszenermesser, das da auf dem Brett lag, über den Schinken herfallen, obwohl der Raum intensiv nach Geräuchertem roch. Er nahm das Damaszenermesser vorsichtig in die Hand. Es war so groß wie ein kleines Schwert und die Schneide war wirklich scharf, sehr scharf. Eine kleine Unvorsichtigkeit, und er würde in einen tiefen, roten Spalt an seinem Finger blicken. Das Wellenmuster spiegelte und er kam sich vor wie ein Seeräuber auf Beutezug. In seiner Hand lag eine mörderische Waffe, er fühlte sich sehr mächtig.
Er schnitt ein ganz kleines, weghängendes Stück vom Speck ab. Nur um das Messer auszuprobieren. Das schmeckte vorzüglich. Er dachte an seine beiden Mütter, die ihm die schönsten Leckereien in mundgerechten Stücken anboten. Er, mit großer Mühe auf das stinklangweilige TV Programm konzentriert, lehnte ab. Er konnte nichts nehmen. Nein, er verweigerte gelangweilt alles. Seine Art zu zeigen, dass er stark war. Seine Kindheit war ein Leben in ständigem Hunger, denn er hatte sich angewöhnt, die beiden in Dauerbesorgnis zu halten. Ezra war in seinen frühen Jahren sehr klein gewesen, und das machte ihn ohnmächtig und mächtig gleichzeitig. Jetzt war er über diese Phase hinausgewachsen – schönes Essen bedeutete ihm etwas und dieser Raum gehörte ihm.
Plötzlich hörte er ein Scharren aus der Halle.
Schnell ließ er das halbe Glas Kartoffeln und die leere Austerndose in der Tiefkühltruhe verschwinden. Eine Salzlacke aus dem Kartoffelglas rann über den Boden. Leise, leise lief er zur Küchentüre und blieb dort mit Herzklopfen stehen, während er die feuchten Finger in die Hose wischte. Aber er konnte kein weiteres Geräusch hören. Vorsichtig sah er in die Halle. Da war keiner, und im gleißenden Licht wäre der nicht zu übersehen gewesen. Vielleicht hinter der Treppe? Vielleicht hatte jemand das Licht bemerkt und lauerte jetzt hinter der Treppe, um ihn abzuschießen? Im Gebirge hatten alle Leute Schrotflinten!
Ezra lief leise zurück durch die Küche und versuchte, das große Alkovenfenster zu öffnen. Das ging nicht. Irgendwas klemmte. Also eilte er wie ein gefangenes Tier zu dem kleineren Seitenfenster. Das ließ sich leicht öffnen. Er hängte sich weit hinaus, um zu schauen, ob da jemand war. Im matten Licht aus der Küche und im hellen des Mondes müsste er jeden sehen, der da kam. Niemand.
Füße voran ließ er sich hinaus gleiten. Da riss die Wunde über dem Knöchel wieder auf. Er spürte es deutlich. Überall würde Blut verschmiert sein, aber das konnte er nicht ändern. Gott sei Dank war er sehr schlank und noch immer nicht sehr groß. Er landete weich und leise auf dem Boden. Mit einem Stock schob er das Fenster vorsichtig zu – man musste ja nicht gleich entdecken, wie er verschwunden war. Er fand den Gedanken lustig, dass nichts von ihm blieb, nur angedrehtes Licht und eine Pfütze in der Speisekammer. Geister hinterlassen Pfützen, wenn sie verschwinden. Und einige Blutspuren am Fensterbrett. Der Geist im ersten Stock wusste natürlich Bescheid. Aber er war sicher zu sehr mit seiner Ermordung beschäftigt, um sich mit Kartoffeln und Austern zu befassen.
Deckung suchend lief Ezra zu dem nächsten Haus, dem „Jagdschloss“. Sein Ziel in völligem Dunkel. Ein Bau mit hohem Mittelteil und zwei lang gestreckten Seitenflügeln. Ein ganzes Heer von Schornsteinen erhob sich schlank, weiß und wohlgeformt im Mondlicht über dem Dach, nicht für Störche, nicht für Rauchfangkehrer, nur reine Romantik, verbunden mit der Illusion von rauchenden Öfen.
Er war ganz sicher, dass dort den ganzen Abend lang kein Licht gebrannt hatte. Deutlich war sein Licht zu sehen, in der Küche. Dort hatte sich nichts verändert. „Der“ lauerte noch hinter der Treppe!
Einlass ins Jagdschloss war gefragt. Das Schloss der großen Flügeltüre war eine schwierige Sache – auch Wolfgang hätte das nicht aufgekriegt. Er ging nach rückwärts in den Hof, am Kegel aus Pferdemist vorbei und zu der kleinen Türe, die er früher gesehen hatte. Der Nagel tat seinen Dienst und er war drin. Ein kleiner Gang - das Licht ging an – er hatte es nicht aufgedreht! Strahlende Helle umgab ihn. Sein Atem erstarrte. Sein Herz wurde zu Stein. Kein Fenster, nur rechts und links eine Türe. Die Panik verschnürte seine Brust, der einzige Fluchtweg war die Türe ins Freie. Dann sah er die Anlage – ein Bewegungsmelder mit Licht. Er veratmete den Adrenalinspiegel und schaute hinter die Türen.
Rechts waren Stallungen. Da lag noch Stroh. Er schloss diese Türe wieder. Die andere führte in ein Zimmer. Oder sollte man es Salon nennen? Er konnte einen nicht sehr großen Raum im blassen Licht des Vorraums erkennen. Die Fenster gingen auf den Hof. Haus 1 war nicht zu sehen. Er schlüpfte zuerst vorsichtig in den Raum und sah aus der hohen Fenstertüre. Da war keiner. Licht an – eine Orgie in Rot und Gold. Möbel im nachgestrickten Renaissancestil, ein bisschen auch Barock, sahen ihm und seiner Furcht ungeduldig und leicht gereizt zu. Reich geschnitzt waren die Möbel, sie wirkten nervös. Es war an nichts gespart worden. Vor allem nicht an Mustern. Diese Pracht nahm ihm irgendwie die Luft zum Atmen. Ein viel zu großer Luster, wie aus einer Hotelhalle, mächtig, birnenförmig und sehr golden, hing dicht über dem geschnitzten Tisch, so dass nur wenig Platz über der Platte blieb, und die Tapete ließ keinen Zentimeter des Raumes ungemustert. Ein offener Kamin, umkränzt von einer steinernen Rosenranke, hatte kaum Platz. An der Decke waren Stuckornamente, und eigentlich war der Raum für dieses Massenaufgebot an Farbe, Form und Ornament viel zu klein. In der Vielfalt erstarrt, fühlte er sich von fremden Gedanken eingekreist, die hektisch auf ihn einredeten, aber er konnte nicht verstehen. Es war zu viel. Hörte er Schritte? Atmete jemand? Das Zimmer erzählte mühselige Geschichten. Ein gefesselter Besucher musste zuhören, durfte nicht aufstehen und gehen. Hier hatten Freiheit, Luft und auch der Raum jedes Recht gegen das Ornament verloren.
Wer bitte machte so ein Zimmer? Ezra wollte dringend wieder raus. Als er die Türe in den Gang öffnete, ging das Licht wieder an und löste prompt eine neuerliche heiße Krise in seinem Bauchraum aus. Die Räume nach vorne hinaus waren ihm zu unsicher, man konnte ihn womöglich von Haus 1 sehen. So wanderte er in den anderen Seitenflügel - in die Stallungen.
Dort war ein Wohnsalon für Pferde. Der Vollmond schien inzwischen hell durchs Fenster. Nicht überall war der Boden betoniert. Es gab Stellen mit nacktem Lehm, da konnte man Abdrücke von Hufeisen erahnen. Untertags kam Licht durch die hohen Fenstertüren. Futterkrippen aus Holz, geschnitzt mit runden Kanten und seidig glänzenden Flächen, durch den Gebrauch poliert. Glänzende Holzteile trennten eine Box von der nächsten. Ezra sah förmlich die samtweichen Nasen darüber streichen, die glänzenden Leiber an ihnen entlang reiben. Es war kein Tier da, aber der Raum atmete Pferd. Wo waren sie? Auf der Weide? So vornehme Pferde konnten doch nicht nachts im Freien bleiben. Er zählte sechs Plätze. Als er eine Krippe berührte, spürte er Staub – sie waren nirgendwo.
In der Ecke war ein großer Strohhaufen aufgeschichtet. Er roch feucht und ein wenig nach Alkohol. Am Ende des Raumes an der Wand hingen Sättel und Zaumzeuge und Pferdedecken. Er nahm sich eine, breitete sie über das Stroh und kletterte zufrieden in seinen Schlafsack. Genau richtig. Falls ihn einer erwischte, demonstrierte er Bescheidenheit. Er schlief bei den Pferden, nicht anmaßend im Bett des Bewohners. „Wer hat in meinem Bettchen geschlafen? Niemand!“ Von seinem Schlafplatz konnte er das erste Haus sehen. „Sein“ Licht brannte noch, genauso wie er es verlassen hatte. Der mit der Schrottflinte konnte lange warten! Ein kurzes Gefecht zwischen Beunruhigung und Zufriedenheit, und Ezra schlief.
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