Immer neugieriger wurde er auf die Geschichte. Wieso stellte einer so kostbare Häuser hin und bewohnte sie dann nicht? Und was sollte dieses Teufelsbild im Arm der Mutter Gottes?
Er wanderte zum Wasser und setzte sich an den Rand. Vorsichtig zog er den blutigen Schuh vom Fuß und schälte dann auch den Socken ab. Das Wasser war klar und sehr, sehr kalt und holte ihn von der Madonna zurück in diesen seltsam mystischen Häusergarten. Er wartete, dass die Pferde von der Weide kamen, oder die Beobachterin – sein Vorurteil, es wäre eine Frau – ihren Vorhangplatz verließ. Dass irgendjemand aus einem der Häuser trat. Still wie eine Fata Morgana war der Ort – Kostbarkeiten zum Wohnen ohne Menschen drin. Schließlich wurde es dämmrig und damit empfindlich kalt. Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Wenn sich jemand nicht sprechen lassen wollte, musste er bzw. sie immerhin Licht aufdrehen. Doch da war kein Licht. Die Häuser schlossen die Augen und gingen mit der Sonne schlafen.
Er hatte bereits den Regenschutz aus seinem Rucksack geholt, denn der kleine See kräuselte sich nun, und er überlegte das erste Mal ernsthaft, wie er die Nacht angenehm verbringen konnte.
Wenn er etwas gelernt hatte, so war es, Schlösser aufzukriegen. So machte er sich auf, um passendes Werkzeug für den Einbruch zu suchen. Er würde diese fremden Häuser für sich erobern, und wenn es nur für eine Nacht war.
Hände und Füße tasteten in der Dämmerung nach einem Nagel. Rund um den Bagger und im Hof. Das brauchte er für einen ordentlichen Einbruch. Seine Tante Rena hatte zu seinem Lernprozess in Sachen Schlösser nicht unwesentlich beigetragen. Sie hatte die Gewohnheit, interessante Dinge in Kästen zu sperren und laut und deutlich zu sagen: „Lieber Ezra, das ist auf keinen Fall etwas für dich.“ So sah er sich genötigt, einzubrechen, ein Übungsprogramm seiner Kindheit.
Glucksende Heiterkeit kam mit der Erinnerung: Tante Rena hatte mit einer Zeitschrift vor seiner Nase gewedelt, auf dem Titelblatt ein nacktes Mädchen, das schenkte ihm jenen Blick, den sie und der Fotograf für ein Sexversprechen hielten, eine Aufforderung, sich den Möglichkeiten sexueller Freude im Blattinneren hinzugeben, damals eine wesentliche Beschäftigung für Ezra. „Das“, so sagte Tante Rena, „ist nichts für dich“, und sperrte die begehrten Bilder in den Küchenkasten. Ezra holte damals das erste Mal den Schraubenzieher, um die Rückwand abzuschrauben.
Doch diese Komplikationen fanden ein Ende, als Wolfgang in sein Leben trat.
Wolfgang war das Kind, gegen das alle Eltern Vorbehalte hatten. Mutter und Tante Rena erklärten ihm lang und breit, dass Wolfgang keinesfalls ein Umgang für ihn sei. Die Familie von Wolfgang - vor allem der Vater - sei - ein Naserümpfen von beiden - sehr zweifelhaft. Das bewirkte, dass Ezra am nächsten Tag die Nähe von Wolfgang suchte und fand. Es brauchte nur einige Großzügigkeiten, und Wolfi war sein Freund. Wolfi war jedes Bonbon, jedes Taschenmesser, jedes Päckchen Spielkarten wert, denn sein Vater konnte Schlösser knacken, und Wolfgang hatte so Zugang zu Möglichkeiten, von denen Ezra immer geträumt hatte.
Er fand hinter dem Jagdschloss auf der Erde einen großen Nagel. Es war schon sehr dunkel. Er musste ihn mehr fühlen, als er ihn sah. Mit einem Stein klopfte er ihn in die richtige Form. Die Entscheidung traf er schnell. Er ging zu dem Haus, das er als erstes berührt hatte, und es dauerte nicht lange, so hatte er die kleine Türe an der Hangseite offen.
Vor ihm lag eine düstere Halle. Falls ein Mensch da war, würde er ihn oder sie gleich treffen. Er tastete nach dem Lichtschalter – wahrscheinlich war der Strom abgeschaltet.
Aber es wurde Licht. Über ihm erstrahlte ein mächtiger Lüster mit vielen Lampen und Elchgeweih. Ein leeres Kaminloch, tote Reste eines Hirsches darüber. Eine schöne breite Holztreppe wand sich in den ersten Stock. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Es bewegte sich nicht wirklich etwas, aber war da nicht gerade jemand nach oben gelaufen?
Er hatte den Eindruck einer Gestalt auf dem Weg in den ersten Stock.
Er schaute hinauf, konnte aber keinen über der Balustrade sehen. Es war absolut still. Die Treppe hatte nicht geknarrt. Kein Laut von draußen, keiner von drinnen.
Er lief in den ersten Stock, um zu schauen, ob da vielleicht doch einer war, begann sehr laut aufzutreten, für den Fall, dass da tatsächlich jemand nach oben gelaufen war. Er brüllte: „Ist da jemand?!“ Er wollte keine Überraschungen. Schweigen antwortete ihm. Da sah er oben am Treppenabsatz neben einem roten Teppich am Boden die Kontur eines Menschen. Weißlich über dem dunklen Boden. Kein Körper drin, nur die Kontur. Reste einer polizeilichen Untersuchung. Ein Mord? Wer war hier umgebracht worden?
Er schreckte zurück. Er wollte das da jetzt nicht. Er wollte friedlich ein fremdes Haus bewohnen. Dieses Haus aber war vom Geist einer Ermordeten bewohnt. Das war belastend. Plötzlich fühlte er sich müde.
Er ging die Treppe hinunter. Schwerfällig. Er hatte das Gefühl, er sah schlechter, der Raum schien dunkler als noch vor ein paar Minuten. Er machte die erste Türe auf, denn sie führte wohl in das Zimmer, in dem sich der Vorhang bewegt hatte. Er erkannte die Spitzenvorhänge sofort und sah zwei Fenster. Das Licht von der Halle schien hinein, der Elchlüster strahlte durch das Rechteck der Türe. Jetzt hätte er schwören können, dass sich der andere Vorhang bewegte, aber da war keiner. Ein großer, übersichtlicher Raum, untertags wohl sonnig hell. Er ging hinein und sah im Gegenlicht eine dicke, ungestörte Staubschicht auf dem Tisch. Schwere, dunkle Kästen, ein Gobelin an der Wand. Da war schon lange keiner mehr gewesen. Nur durch das Öffnen der Türe gab es Elfen. Er nannte das seit seiner Kindheit so, wenn feiner, glitzernder Staub im Licht aufschwebte. Tante Annas Sterbezimmer fiel ihm ein.
Er ging jetzt leise. Das alte Haus wollte er nicht beunruhigen, die Toten auch nicht. Wenn keine anderen Menschen da waren, das Haus nicht beschützen konnten, wollte er nichts berühren, was nicht sein musste, sanft, nur schauen.
Die nächste Türe führte zu einer Küche – und was für eine Küche! Eine wundervolle Küche. Ein langer Raum. Plötzlich fühlte er sich wie nach einer Sintflut gestrandet. Er hatte Hunger wie ein Wolf.
Am Boden waren rote Steinplatten, in der Mitte des Raumes ein wunderschöner Birnholztisch mit dicker, quadratischer Platte, ein moderner Herd, die teuerste Variante. Gewölbebögen überspannten den Raum, dahinter ein Alkoven mit großem, breitem Fenster und einem einsamen Schaukelstuhl. Eine geliebte Küche. Eine persönliche Küche. Hier war an nichts gespart worden, nichts hineingetragen, das man nicht haben wollte. Ein anspruchsvoller Bauch wollte sich hier den Genüssen des Essens und Trinkens hingeben.
Die Tote im ersten Stock konnte das alles nicht mehr benützen. Er hatte das sichere Gefühl, dass der Geist, der den Vorhang bewegt hatte einer Frau gehörte. Sie war ermordet worden und schlich jetzt noch durch ihre Räume. Vielleicht hatte sie ihn erwartet? Vielleicht freute sie sich über Besuch? Niemand hinderte ihn, die Pracht gehörte ihm und ihm allein. Von der Küche führte eine Türe in eine Speisekammer. Die Spinnennetze klebten an seinen Fingern, als er den Lichtschalter drehte. Feuchtschutzschalter – das Licht zeigte einen gedrungenen Raum, etwa wie ein Wohnzimmer in einem Gemeindebau mit schweren tiefen Balken an der Decke. Von denen hing ein Speckstück und weiter hinten ein ganzer Schinken. In Regalen stapelten sich Pakete. Ganze Reihen von Marmeladen und Kompotten, Dosen mit geräucherten Austern, eine mächtige Tiefkühltruhe, die leise surrte. Man konnte es nur hören, wenn man direkt daneben stand.
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