"Welch eine Lüge!" kam es aus Annegret. Gustav, der in einer Zeitung die neueste politische Lage studierte, schaute auf, dann lachte er.
Dann hatten die Beiden die fast schon verwegene Idee gehabt, selbst ein Schiff zu kaufen, um ferne Länder kennenzulernen - oder ganz einfach irgendwo vor Anker zu gehen, wo es schön war und wo die Sonne schien - vielleicht in der Karibik, vielleicht auch anderswo. Ein Schiff - ja, aber das könnte im Idealfall ein schwimmendes Seniorenheim sein. Warum eigentlich nicht? Vielleicht ließe sich das auch mit einer Art Tourismus "einer ganz anderen Art" verbinden. Auf der einen Seite würde man vielleicht nicht allein sein, und man habe sich andererseits doch so etwas wie eine Unabhängigkeit bewahrt.
Der Gedanke, schließlich ein eigenes Schiff, sozusagen ein schwimmendes Seniorenheim, zu kaufen, ließ die Rastenberger nicht mehr los. Sie gingen mit dem Gedanken ins Bett, und sie wachten am nächsten Morgen mit dem Gedanken auch wieder auf. Sie sprachen kaum noch von etwas anderem als von einem Schiff. Das Geld war dafür reichlich vorhanden, warum also nicht? Und wenn es sich als Fehler herausstellen sollte, könnte man das Schiff ja wieder verkaufen.
Die Rastenberger kauften sich tatsächlich eine riesige Luxusyacht, die sich ein russischer Milliardär in Hamburg hatte bauen lassen. Bevor diese große Yacht überhaupt in See stechen konnte, war der Milliardär gestorben, und seine Erben wollten nicht das Boot haben, sondern sie hatten Geld sehen wollen. Gustav und Annegret, die davon über die Werft gehört hatten, hatten die Yacht für € 650.000 gekauft. Den Unterlagen nach war die Yacht mit 200 Luxuskabinen und großen Salons ausgestattet, und für Gustav sah es so aus, als hatte das Schiff ursprünglich so etwas wie ein Spielkasino sein sollen. Gewiss, das Schiff war "sündhaft teuer", so drückte sich Annegret aus. Aber war es nicht der erste Schritt zu einem Traum? Außerdem war der Preis ein "Schnäppchenpreis", wie ein Vertreter der Werft sagte.
Gustav und Annegret fuhren zur Werft, die das Schiff gegen eine handfeste Gebühr "geparkt" hatte, und sie Beide waren sehr erschrocken, als ihnen das große Schiff buchstäblich entgegensah. Das war keine Yacht, wie auch der Werftmanager grinsend bestätigte. Das das ein mittelgroßes, seetüchtiges Passagierschiff, ein Kreuzfahrtschiff kleinerer Größe. Sie besichtigten das Schiff, das heißt, sie gingen an Bord und besahen sich den ungeheuren Luxus in den Kabinen und Sälen. Eine Luxuskabine allein war so ausgestattet wie normalerweise eine gute Zwei- oder Dreizimmerwohnung, und alles von bester Qualität. Sie hörten sich auch Einzelheiten zu den technischen Daten an, die sie in Wahrheit nicht richtig verstanden. Sie verstanden lediglich, dass sie für einen Haufen Geld ein wirklich gutes Schiff erstanden hatten, Hatten sie das gewollt?
Ziemlich unsicher kehrten sie in ihre Villa in Harburg zurück, wo sich die Beiden erst einmal zu einem guten Schluck Wein hinsetzten.
"Und was machen wir jetzt?" Annegret schaute Gustav an. Sie hatten das Schiff - "was aber machen wir damit? Ich fürchte, dass das eine Nummer zu groß für uns ist”, fügte Annegret zaghaft hinzu. Dann lachte sie wie schon lange nicht mehr. Schließlich sagte sie: "Ich glaube, wir haben vor uns ein Abenteuer. Einfach toll!" Erst grinste Gustav. Er freute sich über ihr Lachen - dann musste er auch lachen.
"Wir sollten uns mit einem Menschen unterhalten, der genauso blöd träumt wie wir”, erklärte Gustav, immer noch lachend. Denn für ihn war es ein Traum, ein schwimmendes Seniorenheim zu haben, und er war im Grunde ganz froh, dass Annegret den Traum auch mit ihm teilen wollte, auch wenn sie gegenwärtig etwas ängstlich zu sein schien.
"Ja, wir sollten uns einmal mit einem Menschen unterhalten, der uns verstehen würde”, bestätigte Annegret. Gustav dachte noch ein wenig weiter. Er hielt den Traum nicht nur für eine gute Idee, sondern auch für eine gewinnbringende Idee, obgleich der Gewinn bestenfalls eine Art Nebenprodukt darstellen sollte.
"Ich glaube, ich sollte mich einmal mit den Chefingenieur der Werft unterhalten”, sagte Gustav, und er nahm sich vor, das gleich für den nächsten Tag vorzusehen.
"Nein”, kam es prompt von Annegret, "nein. Ich denke, wir sollten uns mit einem Menschen unterhalten, der nicht unbedingt ein Technokrat ist, sondern ein Mensch mit einiger Phantasie."
Gustav war damit einverstanden, aber wo würde man solch einen Menschen finden?
*
Es war Annegret, die auf einmal einen guten, einen zündenden Gedanken hatte, mit dem sich Gustav auch sofort anfreundete. Sie hatte auf dem Empfang zu Annegrets Geburtstag neben vielen zum Teil sehr wertvollen Geschenken einen Bildband bekommen, der etwas mit Yachten und Seefahrten zu tun hatte. Das Buch hatte sie seinerzeit beiseite gelegt mit der Absicht, es in Ruhe durchzulesen, und dabei war es damals geblieben. Sie nahm jetzt das Buch zur Hand. Der Verfasser war ein gewisser Hans Greffe, las sie. Als sie den Namen gesehen hatte, war ihr auch die Fotoausstellung eingefallen, die ihr Mann und sie vor vielleicht einem Jahr oder zwei Jahren besucht hatten.
"Warum sollten wir diesen Mann nicht mal kennenlernen?" fragte Annegret. Sie fuhr fort: "Wir brauchen im Augenblick keinen Ingenieur, sondern einen Menschen mit Fantasie, der unsere Gedanken nachvollziehen kann." Sie war eine mittelgroße, rundliche Frau, die normalerweise wenig sagte, aber sehr oft zu lächeln wusste. Ihr Lächeln wirkte mal verschmitzt, mal einladend, mal auch nur höflich, aber dieses Lächeln machte sie ganz einfach sympathisch. Dabei versuchte sie, stets im Hintergrund zu bleiben. Gustav wusste, dass das nicht gespielt war. Annegret war ein wenig menschenscheu, und am liebsten war sie zu Hause, malte ein wenig, hörte Musik, nähte gelegentlich, oder unterhielt sich mit den wenigen Besuchern und Freunden, die ins Haus kamen. Das hieß aber nicht, dass sie allein irgendwo in einer isolierten Villa leben wollte. Nein, sie wollte aus dem Fenster sehen können, sie wollte Menschen sehen - allerdings ohne ihnen zu nahe zu kommen. So war Annegret, und das war die Frau, die er mal geliebt hatte, und die er immer noch sehr gern hatte, die er immer noch liebte. Ein Lebern ohne sie war für ihn kaum denkbar, und das machte ihm auch Angst. Denn sie waren nun in einem Alter, in dem man ans Sterben denkt.
"Und dann?" fragte Gustav. Er schaute sie mit seinen blassblauen Augen fragend an. Er war groß, sehr viel größer als sie, dazu recht kräftig und zupackend. Er ging auf Menschen zu, vor allem dann, wenn er etwas von ihnen wollte.
"Weißt du, ich glaube, er versteht etwas von Schiffen, denn die Fotos zeigen meistens Menschen in Häfen - und welche Häfen? Die scheint er doch mit einem Schiff angelaufen zu haben. Und ich erinnere mich dunkel, dass er die Bilder auf einer Reise gemacht hatte, als er mit seiner eigenen Yacht unterwegs gewesen war”, sagte sie. "Das kann man bestimmt in seinem Buch genauer erfahren."
Gustav musste grinsen. Seine Frau hatte manchmal die richtigen Ideen. Ja, stimmte er zu, man sollte sich vielleicht mit dem Mann namens Greffe unterhalten, unverbindlich natürlich. Und wenn das Gespräch zu nichts führen würde, könne er sich auch mit einigen Fachleuten der Werft unterhalten, dachte er. Jedenfalls war es ein Versuch wert.
Gustav surfte im Internet, dort fand er auch den Namen Hans Greffe, und er erfuhr, dass dieser noch recht junge Mann zwei Fotobände herausgegeben hatte, und er konnte auch eine Kurzbiografie lesen, die allerdings nicht viel sagte außer, dass der Verfasser sich mit Reisen befasse, die er mit eigener Yacht durchführe. Was Gustav im Internet nicht entdecken konnte, war eine Kontaktadresse.
Gustav erfuhr die Anschrift des Herrn Greffe wenn auch nicht so ohne weiteres, von "seiner" Buchhandlung Thiede. Buchhandlung Thiede war natürlich nicht "seine" Buchhandlung, aber das war der Buchladen, in dem seine Frau gelegentlich Bücher einkaufte. Nette Leute waren das, hatte Annegret immer wieder versichert, und das konnte er auch bestätigen. Nett oder nicht, die Buchhandlung Thiede, Gustav sprach mit Frau Thiede selbst, wollte die Anschrift von Herrn Greffe nicht preisgeben, war aber bereit, ein Treffen mit ihm zu arrangieren, was sie auch tat .
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