Wenn Jemand gesagt hätte, Hans sei ein Künstler, er hätte - was sehr selten tatsächlich passierte - laut gelacht. Er fühlte sich nicht als Künstler. Er war eher ein Kapitalist, und politisch neigte er den Liberalen zu, ganz einfach, weil das die Leute waren, die gegen zu viele Regeln angingen. Und wenn er knapp bei Kasse war, so sah er zu, dass er zu Geld kam - nicht über die Arbeitsagentur, nicht über das Sozialamt, er hätte sich geschämt, diese Stellen aufzusuchen. Er war recht gut vernetzt, und Jobs waren, zumindest für ihn, immer zu haben.
Die Freundschaft und Partnerschaft mit Erwin war recht traurig zu Ende gegangen, die Yacht hatte verkauft werden müssen, und Hans hatte zunächst nicht gewusst, was er mit sich anfangen sollte. Er war Fotograf, und Motive gab es immer, aber Hans war in der ersten Zeit ohne Freund und ohne Boot innerlich gleichgültig, plan- und ziellos gewesen. Die lange Sterben des Freundes hatte Wunden hinterlassen, die nur sehr langsam heilten. Erwin war ihm wichtig gewesen, und nun gab es ihn nicht mehr. Es war Krebs gewesen, und als man ihn angerufen hatte, dass es zu Ende gehe, hatte er noch Abschied nehmen können. Es war ein Händedruck gewesen, ein Streicheln über die Wangen und die Stirn, nicht mehr. Die Familie hatte den toten Erwin für sich reklamiert. Er war dann eingeäschert und anonym beigesetzt worden. Was für Hans blieb waren die Erinnerungen und einige Fotos, die er sehr oft vor sich auf den Nachttisch legte, um mit ihnen zu träumen.
Vielleicht würde er sich eine kleine Yacht kaufen, denn er wollte durchaus wieder aufs Wasser. Vielleicht sollte er eine Weile in Hamburg bleiben, um Hamburg und die manchmal recht geheimnisvolle Welt der Hamburger Menschen zu erobern. Vielleicht sollte er versuchen, wieder einen Freund und Partner zu finden, der mit ihm zumindest einen Teil des Lebens teilen könnte. Eine Frau? Vor mehr als 10 Jahren hatte er herausgefunden, dass eine Partnerschaft mit einer Frau nicht funktionieren konnte. Die Erkenntnis war nicht leicht gewesen, aber er hatte sie akzeptieren müssen.
Hans war damals 16 Jahre alt gewesen, als seine Mutter ihn in den Armen eines anderen Mannes erwischte. Die Mutter, Gerlinde Greffe, hatte Hans aus dem Haus geworfen, und sie hatte laut und unmissverständlich dem Jungen zu verstehen gegeben, dass er zu Hause unerwünscht sei. Tatsächlich hatte er die erste Zeit auf der Straße verbracht, ehe ihn seine ältere Schwester, die damals bereits eine eigene Wohnung gehabt hatte, zu sich geholt hatte. Hildegard, so hatte die Schwester geheißen, hatte dafür gesorgt, dass er sein Abitur machte, und sie hatte ihn auch zum Studium gedrängt, das er mit Hilfe eines Stipendiums mit einem Diplom auch zu Ende gebracht hatte. Weder den Vater, noch die Mutter Gerlinde, noch den "großen" Bruder Mathias, hatte er seitdem wiedergesehen.
Hildegard hatte sich seinetwegen mit den Eltern zerstritten, und sie hatte ihnen die schwersten Vorwürfe gemacht. Die Auseinandersetzungen eskalierten damals so sehr, dass Hildegard ziemlich bald dem Elternhaus den Rücken gekehrt hatte, sie hatte jede Bindung und Verbindung abgebrochen. Hildegard, die ihn gestützt hatte wie nach ihr Erwin, war an einem Unterleibsleiden gestorben.
Was sollte er jetzt tun? Vielleicht - vielleicht, sollte er dieses oder jenes tun, so genau wusste er nicht, was er tun sollte, um einen Partner zu finden, oder zumindest um sich selbst zu finden. Den Trennungsschmerz hatte er in Wahrheit noch nicht ganz überwunden, aber es gab gegenwärtig keinen Menschen, dem er sich ganz öffnen wollte oder konnte. Und so suchte er Abwechslung im Club, in der Sauna, in der Gym, aber so richtig wollte das nicht helfen. Ein flüchtiges Erlebnis, mochte es noch so gut sein, half nicht über die Leere hinweg, die er gegenwärtig fühlte.
Hans fand vorübergehend Arbeit in "seinem" Verlag als Übersetzer; es war der Verlag, der auch seinen Bildband veröffentlicht hatte, und mit dem er über einen zweiten Band verhandelte. Die Verlagsleitung hatte Hans gern genommen, denn er war tüchtig, und er hatte einen vorzeigbaren Lebenslauf, nicht nur wegen der Fotos. Hans hatte das Gymnasium besucht, er hatte an der Hamburger Universität sein Diplom als Betriebswirt gemacht, er hatte sogar als Betriebswirt für einige Monate in einer kleineren Reederei gearbeitet, ehe er sich mit seinem Freund Erwin und mit einer Yacht auf die Meere begeben hatte. Hans konnte sich in sechs Sprachen gut unterhalten, was ihm als Fotograf und im Verlag sehr half.
Aber Hans hatte auch noch andere Talente, die man nicht vermutete: er war Meister im Kampfsport, und während seines Studiums war ihm dieser martialische Sport so etwas wie ein Ausgleich gewesen. Das war er immer noch, und in letzter Zeit war er oft im Club bei verschiedenen Arten des Kampfsports zu sehen. Dabei war Hans nicht an irgendwelchen Titeln oder Gürteln interessiert. Er wollte sich ganz einfach mit seinen Partnern körperlich auseinandersetzen, sich an ihnen messen, mit ihnen schwitzen - und deren Nähe fühlen.
In diesen Tagen bereitete sich Hans wieder einmal auf eine kleine Reise, eher einen Ausflug, vor. Es sollte nur eine Fahrt bis nach Cuxhaven, und nur eine verlängerte Wochenendfahrt, sein. Ein ehemaliger Kommilitone wollte die Tour und hatte Begleitung gesucht, Hans hatte eingewilligt - warum auch nicht? Bei den Reisevorbereitungen zeigte sich, dass Hans gründlich sein konnte und nur wenig dem Zufall überließ. Es war nur eine kleine und an sich unbedeutende Tour, aber auch da könnte es Überraschungen geben, die vielleicht vermeidbar waren. Walter, so hieß der ehemalige Kommilitone, war ganz anders als Hans, nicht nur, was die äußere Erscheinung betraf. Walter war mittelgroß, eher schmächtig, und beruflich sehr ehrgeizig. Er hatte promoviert, und er arbeitete bei einem Logistikunternehmen bereits in führender Position. Eine Leidenschaft teilte er mit Hans: Wasser.
Hans freute sich auf diese kleine Fahrt, denn sie war eine willkommene Abwechslung - von was?. Eine Antwort hatte er nicht. Es spielte eigentlich keine Rolle, dass der ehemalige Studienkollege nicht der ideale Partner war - aber er war ein angenehmer Mensch, der viel lachte, der stets viel zu erzählen hatte und der auch mit seinem beruflichen Erfolg nicht hinter dem Berg hielt, wie man so sagt. Er war stolz, dass er etwas erreicht hatte. Für Hans kam eine enge und intime Partnerschaft mit ihm nicht infrage, denn dieser junge Mann war nicht schwul. Hans fand ihn nett, das war alles.
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Gustav Rastenberger hatte vor mehr als einem Jahr, es war nach dem unerwarteten Herzinfarkt gewesen, und nachdem er bereits seinen Job an den Nagel gehängt hatte, mit seiner Frau Annegret einmal eine Ausstellung im Hamburger Schifffahrtsmuseum besucht, die auch Fotos von Hans Greffe gezeigt hatte. Es waren vor allem drei Fotos, die ihn und Annegret genauer hinschauen ließen, und alle drei Fotos waren in Häfen oder doch in Hafennähe aufgenommen worden: Hamburg, Piräus und Ponta Delgada. Im Grunde sagten ihm Reisefotos nicht sehr viel, aber diese drei Bilder strahlten etwas aus, was ihn nahezu fesselte. Sie zeigten eine Harmonie zwischen Wasser, schützenden Gebäuden und Menschen. Das war also vor mehr als einem Jahr gewesen. Die ausdrucksvollen Fotos hatten weder er noch Annegret nicht vergessen, wohl aber den Namen "Hans Greffe".
Vor einer Woche hatte seine Frau ihren 70-jährigen Geburtstag gefeiert, zu dem Gustav im "Atlantik" eingeladen hatte. Annegret Rastenberger, eine sehr bescheidene und stille Frau, hatte in Wahrheit keine Lust zu dieser Geburtstagsfeier mit Empfang in dem teuren Hotel gehabt, aber sie - und vor allem ihr Mann - waren "in der guten Gesellschaft" ganz einfach zu gut bekannt, und sie hatten nicht vor, sich den Trubel einer Geburtstagsfeier ins Haus zu holen. Also gab es den Empfang außer Haus. Das war es nicht allein. Gustav war während seiner beruflichen Zeit in der Finanzwelt gut bekannt und vernetzt gewesen. Freunde und Bekannte von damals nutzten die Gelegenheit, sich mit "wichtigen" Leuten zu treffen, um über Kurse zu reden und darüber zu spekulieren, wo man etwas Geld gewinnbringend anlegen könnte. Gustav, der mit Schiffen und mit Immobilien sagenhaft viel Geld gemacht hatte, galt als Kapazität, dessen Nähe man suchte.
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