Sie sprach mit Gustav darüber, der auch zuhörte, der aber meinte, man könne doch jetzt nicht alles aufgeben. Er nahm eine kostbare Vase in die Hand, schaute sie an und fragte:
"Kannst du diese schöne Vase in der fast perfekten Umgebung aufgeben?
Sie lächelte, dann war sie sehr ernst, als sie entgegnete: "Ja, das kann ich."
Annegret hatte nur sehr wenige Freunde, mit denen sie sich austauschen konnte, und diese waren weit weg, und in Wahrheit waren es eher gute Bekannte, nicht Freunde. Sie verkehrte mit ihnen schriftlich, meist per e-Mail. Gelegentlich sprach man telefonisch miteinander. Es gab Tage, manchmal auch Wochen, da fühlte sich Annegret in einem goldenen Käfig und völlig isoliert. Die gesellschaftlichen Ereignisse, die es durchaus gab, waren kein Ausgleich, auch ihre Mitgliedschaft in einem Wohltätigkeitsverein war kein Ausgleich. Einmal pro Woche fuhr sie ins Hallenbad, das war irgendwie auch unbefriedigend. Sie tat das ihrer Figur zuliebe, die gar nicht so schlecht war. Ja, sie war eine sportliche, frische Erscheinung gewesen, und das war sie nach Ansicht ihres Mannes und der Bekannten immer noch.
*
Bettina Dallbeg und Horst Karenski, sie waren Kommissare der Hamburger Polizei, kamen in das Heim für schwer erziehbare Jugendliche oder werdende junge Männer. Es war nicht das erste Mal, dass sie dort aufkreuzten, um dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen, was sie ungern taten. Die meisten Jugendlichen dort waren "schlecht", so drückte sich Kommissarin Dallbeg aus, und es war schwer, sie in geordneten oder doch überschaubaren Bahnen zu halten. Viele von ihnen kamen aus anderen Heimen, einige hatte man auf der Straße gefunden, und es gab welche, die man aus ungeordneten Familienverhältnissen herausgeholt und hierher gebracht hatte.
Gegenwärtig gab es dort 14 männliche Jugendliche unterschiedlichen Alters, die aus sehr verschiedenen Gründen hier untergebracht worden waren. Überwiegend wurden die Insassen pauschal zu den schwer erziehbaren Kleinkriminellen gerechnet, die irgendwann festgenommen worden waren und die das Gericht oder auch die Staatsanwaltschaft hier untergebracht hatte. Das Alter der Jugendlichen reichte von 14 bis 18 Jahren, und das Ziel ist es, die jungen Leute über gezielte Ausbildungsmaßnahmen zu einem besseren Leben zu führen, zumindest zu einem geordneten Leben in einer Berufswelt, in der vor allem Leistung zählt. Die Erfolgsquote war ausgesprochen bescheiden, und es gab Kommunalpolitiker, die ein ganz anderes Vorgehen vorschlugen und immer wieder auch durchsetzen wollten. Es hieß, diese jungen Leute seien eine Gefahr für die Gesellschaft und für die "normalen" jungen Leute. Das Heim hatte noch ein anderes Problem: die Finanzierung. Jahr für Jahr musste um das Budget gekämpft werden, und oft hatte es so ausgesehen, als müsse das Heim schließen.
Das Heim hatte den prosaischen Namen "Zielbewusst", und es hieß ganz allgemein, dass das Heim eine sehr sinnvolle Einrichtung für gestrauchelte und vernachlässigte Jugendliche sei. Sinnvoll oder nicht, die Polizei wurde immer wieder gerufen, weil dort Dinge passierten, die nicht passieren durften, und das rangierte von Diebstahl bis zur Prügelei, von sexueller Vergewaltigung und von Drogendelikten bis hin zu Überfällen von jugendlichen Banden, und immer wieder verschwanden junge Leute, die oft mit großem Aufwand und unterschiedlichem Erfolg gesucht werden mussten. Es kam dabei immer wieder vor, dass Jugendliche verschwunden blieben.
Die Kommissare sprachen bei Herrn Hermann Hattener vor, dem gegenwärtigen Leiter dieser Einrichtung. Herr Hattener hatte vor wenigen Stunden die Polizei angerufen, er hatte gesagt, dass "der Kortez" wieder einmal ausgerissen sei und dass er eine große Verwüstung angerichtet habe mit einem geschätzten Schaden von gewiss um die € 100.000. Was noch schlimmer sei, so sagte Herr Hattener, seien die Verletzungen von zwei Ausbildern. Kortez habe die beiden Ausbilder krankenhausreif geschlagen.
"Ich habe den Notdienst alarmieren müssen, und meine Mitarbeiter wurden ins Krankenhaus gebracht - ins Eppendorfer Krankenhaus. Soweit ich von den Ärzten hörte, sind sie inzwischen ansprechbar, einer von ihnen dürfte morgen entlassen werden können."
"Was war die Ursache, und was der Anlass dieser Verwüstung?" fragte Kommissar Karenski.
Herr Hattener zuckte die Achseln, er entgegnete: "So genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Aber ich habe so meine Ideen, und darauf können wir ja noch zurückkommen."
Kommissarin Dallbeg machte sich Notizen, ihr Kollege hörte zu und stellte, wo zweckdienlich, die detaillierten Fragen. So arbeiteten sie meistens: er sprach, sie schrieb. Er gehörte zu den Menschen, die sehr genau hinsahen, hinhörten und der die entsprechenden Fragen zu stellen wusste. Er sei pingelig, hieß es oft in Kollegenkreisen. Aber diese Pingeligkeit hatte sich in seinem Beruf, den er gern ausübte, oft ausgezahlt.
"Schauen wir uns den Schaden einmal an”, schlug Frau Dallbeg vor, womit der Heimleiter einverstanden war. Sie begaben sich in die Schreinerwerkstatt des Heims, in der tatsächlich ein großes Durcheinander herrschte. Werkzeuge lagen überall da, wie sie nicht hingehörten, ein Schrank war buchstäblich zersplittert. Dass dort ein wüster Kampf stattgefunden hatte, war nicht zu übersehen. Kommissar Karenski machte eine Reihe von Fotoaufnahmen. Dann gingen sie in einen Klassenraum, in dem es kaum einen Stuhl gab, der unbeschädigt geblieben war, und drei der Tische waren völlig demoliert. Kommissar Karenski machte weitere Aufnahmen, aber er sagte, die Spurensicherung würde eine genauere Untersuchung durchführen müssen, man solle nichts anrühren. Das gelt auch für die Werkstatt.
"Wer hat das hier angerichtet? Das war doch nicht nur eine Person?" fragte die Kommissarin, obgleich der Heimleiter bereits telefonisch einen Namen genannt hatte. Herr Hattener unterdrückte ganz offensichtlich seine Erregung. Verkniffen antwortete er:
"Das war wieder einmal dieser Siegfried Kortez, und nicht zum ersten Mal! Und noch etwas, soweit ich weiß, war er allein. Er ist immer allein."
Frau Dallbeg erinnerte sich an den Namen. Es war ja kein häufiger Name, und sie wusste, dass dieser Jugendliche bereits mehrfach aufgefallen und somit aktenkundig war. Mindestens zweimal, wenn nicht öfters, war er von der Straße aufgegriffen worden.
"Dieser Kortez hat das hier ganz allein angerichtet?" fragte Kommissar Karenski, wobei er den Heimleiter anschaute. Er fuhr fort: "War er allein? Waren andere Jugendliche beteiligt?"
"Das weiß ich nicht. Was ich vorfand waren die beiden verletzten Ausbilder, der Kortez war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Sonst ist niemand verschwunden."
"Wie haben Sie von dieser Verwüstung erfahren?" wollte Kommissar Karenski noch wissen. Es sei einer der Schüler gewesen, antwortete Herr Hattener, der einen anderen Ausbilder alarmiert habe, und der wiederum habe ihn, Herrn Hattener, geholt.
"Dieser Kortez kam vor knapp einem Jahr zu uns, obwohl ich dem Amt gesagt habe, dass er gefährlich sei, wie die Aktenlage es deutlich gemacht hatte. Das hatte ich auch der Polizei gesagt, das war vor ein paar Wochen gewesen, als der Kortez wieder einmal verschwunden war. Aber man hat sich über meine Bedenken hinweggesetzt. Schon nach der ersten Woche war mir klar, dass der Kortez eingesperrt gehört."
Herr Hattener machte ein wütendes Gesicht. "Der Junge schlägt um sich, ohne dass ein Grund zu erkennen wäre. Schüler wie Lehrer können ein Lied davon singen. Die üblichen Methoden, junge Leute zur Raison zu bringen, funktionieren hier nicht. Er ist ein bösartiger Krimineller, und wenn da nicht bald was passiert, ist er ein Killer."
Kommissar Karenski sagte nicht viel. Er hatte von dem Jungen noch nie etwas gehört. Er wollte allerdings die Personalunterlagen des Jungen sehen.
Читать дальше