Alexander Gallus, Jahrgang 1972, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Berlin und Oxford. Nach seiner Zeit als Juniorprofessor für Zeitgeschichte – Geschichte des politischen Denkens an der Universität Rostock folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz. Dort leitet er auch den Forschungsbereich zur Intellectual History des 20. und 21. Jahrhunderts. Zu seinen Publikationen zählen u. a.: „Heimat ‚Weltbühne‘. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert“, Göttingen 2012; „Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990“, 2. Aufl., Düsseldorf 2006; (als Hrsg. mit S. Liebold und F. Schale) „Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik“, Göttingen 2020; (als Hrsg. mit A. Schildt) „Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930“, Göttingen 2011; (als Hrsg. mit P. Burschel und M. Völkel) „Intellektuelle im Exil“, Göttingen 2011; (als Hrsg.) Die vergessene Revolution von 1918/19“, Göttingen 2010.
Alexander Gallus
Revolutionäre Aufbrüche
und intellektuelle Sehnsüchte
Zwischen Weimarer Republik
und Bundesrepublik
In Erinnerung an
Axel Schildt (1951–2019)
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Coverfoto: Carl von Ossietzky Archiv,
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-578-8
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Print: ISBN 978-3-86393-122-3
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Einleitung
Revolution! Revolution?
1.Systemwechsel und Subjektivierung
Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 als politische Transformations- und Erfahrungsgeschichte
2.Zum historischen Ort der deutschen Revolution von 1918/19
Ein Wendepunkt in der Gewaltgeschichte?
Rechte Mythen und Verschwörungstheorien
3.Geschichtsmär als Integrationsideologie
Die Erfindung und Wirkung der Dolchstoßthese
4.Zwischen Autorität und Aberwitz
Ludendorffs Verschwörungswelten
Linke Erneuerungsversuche und die „Weltbühne“ als Sehnsuchtsort
5.Geistige Herberge und Fluchtpunkt für kritische Intellektuelle
Weimars berühmteste Zeitschrift „Die Weltbühne“
6.„Es ist ein Verhängnis: uns fehlt die Arena, die Tribüne, das Sprachrohr“
Veteranen der Weimarer „Weltbühne“ und ihre Neupositionierung in der politischen Öffentlichkeit nach 1945
7.Heimatlos links, heimatlos rechts
Intellektuelle Transformationen im Exil am Beispiel William S. Schlamms
Liberale und konservative Ideentransfers
8.Kapitalismus, Demokratie und „totaler Staat“
John Maynard Keynes und das deutsche Experimentierfeld der Zwischenkriegszeit
9.Von der „Konservativen Revolution“ zur westdeutschen Demokratie
Rudolf Pechels „Deutsche Rundschau“ und die Wandlungen des Konservatismus
10.Traditionstransfer an den offenen Grenzen des Geistes
T. S. Eliots ‚kulturelle‘ Remedur in der deutschen politisch-intellektuellen Diskussion nach 1945
Ermattender Revolutionswunsch und Abschied von Weimar
11.Betrachtungen über die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Drucknachweise
Personenregister
Am Anfang steht die Revolution, die Revolution von 1918/19. Sie markiert das Ende der Monarchie und den Beginn der Demokratie in Deutschland. Für einen Intellektuellen wie Carl von Ossietzky war sie der hoffnungsfrohe Ausgangspunkt auf dem Weg in eine neue Zeit, die es aktiv zu gestalten galt. Der große Religionssoziologe Ernst Troeltsch sprach in geradezu poetischer Weise von einem „Traumland der Waffenstillstandsperiode“, das weit mehr als die wieder aufzuräumende Trümmerlandschaft einer zerstörten Vergangenheit sein sollte und den Blick nach vorne eröffnete. Es ließe sich sogar behaupten, dass ab dem Herbst 1918 ein Überschuss an Zukunftserwartungen herrschte, mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen und Visionen für eine bessere, neu zu formende Welt. Was konnte fundamentale Umgestaltung anderes bedeuten als Revolution? Carl von Ossietzky jedenfalls hat sie sich im März 1919 – wie auf dem Umschlagfoto dieses Bandes zu sehen – in großen Lettern als ein Statement in den Schoß gelegt, eine Revolution mit Ausrufungszeichen. Dabei hatten Ossietzky und seine intellektuellen Mitstreiter im Frühjahr 1919 bereits so große Zweifel an Reichweite und Erfolg der stattgehabten Revolution, dass wohl eher ein Fragezeichen hätte gesetzt werden müssen: Revolution! Revolution?
So mag man dieses Foto aus den Tagen der jungen Weimarer Republik als Allegorie für einen enttäuschten revolutionären Aufbruch nehmen, zugleich aber auch für den anhaltenden Drang gerade der Geistesarbeiter, sich nicht mit einem in die Sackgasse geratenen Wandlungsprozess abzufinden, sondern den Revolutionswunsch wachzuhalten. Wer eine weniger emblematische Interpretation bevorzugt, wird auf dem Bild zunächst den Lektor des frisch gegründeten Hamburger „Pfadweiser“-Verlags erkennen, der eine Ausgabe der Wochenschrift Revolution! präsentiert. Dieses Blättchen erschien dabei nicht einmal in seinem Verlagshaus, sondern wurde lediglich über den Zeitschriftenverleih des „Pfadweiser-Zirkels“ vertrieben, der auch Ret Maruts (B. Traven) Der Ziegelbrenner im Portfolio führte. Mithin Zeitschriften, die sich anarchistischem Gedankengut verschrieben hatten, gegen Parlamentarismus und Reformismus, ja gegen alle „Erwürger der Revolution“ publizistisch stritten, wie in der Ausgabe der Revolution! vom 15. März 1919 zu lesen war.
Eine scharfe richtungspolitische Entscheidung, die den Anarchismus zum Programm erhob, vermied der Verlag allerdings, der insbesondere – das kam auch in Ossietzkys Engagement zum Ausdruck – monistische und pazifistische Anliegen förderte. In erster Linie und ganz grundsätzlich verstand er sich jedoch als „Pfadweiser zur Bildung und Weltanschauung“ und wollte in den stürmischen Umbruchszeiten an der Entwicklung von „Richtlinien“ mitwirken, „um aus dem ethischen und politischen Chaos der Gegenwart herauszufinden“. 1Während seiner kurzen Tätigkeit bei „Pfadweiser“ publizierte Ossietzky 1919 die Schrift Der Anmarsch der neuen Reformation . Darin übte er Kritik an der Novemberrevolution, weil sie nicht gründlich genug mit der Vergangenheit gebrochen habe. Für den notwendigen politischen, wirtschaftlichen und geistig-ethischen Neuaufbau des Landes fehlten Ossietzky zufolge ein „führender Wille“ und eine „zentrale Idee“. Als umso wichtiger erachtete er künftig, gleichsam eine revolutionäre Daueraufgabe an die Intellektuellen adressierend, die „Durchsetzung der Köpfe mit neuem Geist“, auch um so etwas wie eine demokratische politische Kultur zu formen. 2
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