Schon an dieser Episode lässt sich erkennen, wie nahe beieinander damals die Gefühlswelten von Euphorie und Enttäuschung lagen. Im Ganzen betrachtet sorgte der revolutionäre Gründungsakt während der Weimarer Republik eher für Misstöne, statt Harmonien zu erzeugen. Das kam auch in einem von intellektuellen Eliten beeinflussten Meinungsklima zum Ausdruck. Falsch wäre indes die Behauptung, die Intellektuellen hätten sich vornehm zurückgehalten und der Politik aus einem elitär-kulturellen Dünkel heraus den Rücken gekehrt. Hier und da mag eine solche Einschätzung zutreffen, doch sollten vielfältige Initiativen nicht übersehen werden, mit denen Intellektuelle in den ersten Revolutionsmonaten aktiv an der Umgestaltung des politisch-gesellschaftlichen Systems mitwirken wollten. An vorderster Stelle sind die „Räte geistiger Arbeiter“ zu nennen, die sich die Revolution mit intellektueller Verve anzueignen suchten. Heinrich Mann, der einen solchen Rat in München anführte, schrieb Mitte Januar 1919 hoffnungsfroh: „Die geistige Erneuerung Deutschlands, unsere natürliche Aufgabe, wird uns durch die Revolution erleichtert. Wir gehen endlich mit dem Staate Hand in Hand.“ 3Zu erwähnen ist ebenso Kurt Eisner, der frühzeitig voller Enthusiasmus die geschundene Bevölkerung für politische Partizipation begeistern wollte, oder das Experiment der Münchner Literatenrepublik. Hier zeigte sich ein kraftvolles Moment ästhetischer, intellektueller und partizipatorischer Mobilisierung, die letztlich aber ins Leere lief und weniger Energien freisetzte, als sich die Akteure erhofft hatten.
Schnell machte sich Ernüchterung breit und wurden Klagen über eine festgefahrene, halbherzige, gescheiterte Revolution laut. Dieser Stimmungsumschwung war bereits während des Jahres 1919 zu spüren, kam in Ossietzkys Kritik zum Ausdruck und dann regelmäßig in der bald eng mit seinem Namen verbundenen Weltbühne , der bedeutendsten Zeitschrift einer parteiungebundenen intellektuellen Linken jener Jahre. Die Revolution von 1918/19 erschien nach ihrer Lesart als ein unbefriedigender und unvollständiger Umbruch, der nur einen Wandel der politischen Fassade bewirkte, die Fundamente der alten autokratischen Ordnung – seien es die alten Eliten in Justiz, Militär oder Verwaltung, seien es die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen – hingegen weitgehend unangetastet ließ. Vor diesem Hintergrund galt es, die „wirkliche“ Revolution in Gang zu setzen und eine „wahre“ Demokratie erst noch zu schaffen, die der „formal“ erscheinenden Institutionen- und Verfassungsordnung Leben einhauchen sollte.
Während die Kritik von links im Namen einer besseren Demokratie und vollständigeren Revolution erfolgte, lehnten Vertreter einer intellektuellen Rechten als bekennende Antidemokraten die Novemberrevolution vollständig ab. Paradoxerweise verurteilten sie eine Revolution nicht per se, nur sollte sie eine konservative sein und einen „deutschen Sozialismus“ formen, von dem Oswald Spengler schwärmte. Links wie rechts zeigte sich eine höchst vitale Revolutionssehnsucht. Dies erschwerte es der Novemberrevolution, die immerhin den Systemwechsel von der Monarchie zur Demokratie bewerkstelligt hatte, einen revolutionären Alleinvertretungsanspruch im Kampf der Ideologien zu behaupten.
Gänzlich überschrieben werden sollte die Revolution von 1918/19 durch die „nationale Revolution“ von 1933, die sich als Antithese zu einem „vaterlandslosen“, „landesverräterischen“ Akt der „Novemberverbrecher“ stilisierte. Vorbereitet hatte diese Sichtweise seit Kriegsende die These vom „Dolchstoß“, den politisch subversive Kräfte dem im Feld – angeblich – unbesiegten Heer hinterrücks versetzt hätten. Diese Geschichtslegende vergiftete neben so manchem Verschwörungsmythos, wie ihn etwa Erich Ludendorff voller Aberwitz, aber mit der Autorität des alten Feldherrn bediente, von Beginn der Weimarer Demokratie an das politische Klima und schwächte so die Abwehrkräfte der Republik.
Anfang November 1928 schrieb ein halb zorniger, halb resignierter Ossietzky in der Weltbühne , „Deutschland ist […] das einzige Land, das ohne Erhebung an seine Revolution zurückdenkt“. Und noch mehr: „Im Grunde weiß man durchschnittlich von ihr nicht mehr, als daß sie unsern gloriosen Heerführern freventlich in den zum letzten Schlag erhobenen Arm gefallen ist.“ Folgt man Ossietzkys Interpretation, entwickelte sich die Dolchstoßthese mit den Jahren zu einem mächtigeren Erinnerungsort als die Novemberrevolution, obgleich Letztere doch trotz aller Mängel „lange veraltete Einrichtungen beseitigt“ und „viel Schutt und Moder fortgefegt“ habe. Ossietzky sprach in seiner bitteren Bilanz von einer „verspielten Revolution“, die schwerer wiege als ein verlorener Krieg, ja die „Niederlage eines Jahrhunderts“ sei. 4
In Ossietzkys Urteil kommt der Novemberrevolution als einem konfliktträchtigen Orientierungspunkt für politisch-gesellschaftliche Normvorstellungen eine Schlüsselrolle in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu. Dieser Band setzt daher mit einer Bilanz der Novemberrevolution ein, die zunächst dem Verlauf und den Schritten des politischen Systemwechsels von der Monarchie zur Demokratie große Aufmerksamkeit schenkt, um ihn sodann mit der zeitgenössischen Wahrnehmung und Würdigung des Umbruchs zu konfrontieren. Erfahrungen und Erwartungen von Träumern und Gestaltern, Pragmatikern und Fanatikern, von – frei nach Erich Mühsam 5– Revoluzzern und manchmal auch nur Lampenputzern kommen zur Sprache. Hieran lässt sich bereits erkennen, eine wie kontroverse, je nach Interpretationsrichtung unterschiedliche Identität stiftende Deutungsgeschichte der Revolution sich anschließen sollte, die gerade rund um das Hundertjahresjubiläum 2018/19 wieder aufgeflammt ist und in zwei einander gegenüberstehenden historischen Webmustern zum Ausdruck gelangt: einem demokratiegeschichtlichen Paradigma hier, einem gewalt- und diktaturgeschichtlichen dort.
Wäre die Revolution eine geglückte und geliebte gewesen statt eine vertrackte und verschmähte, hätte sie nicht so viel Potenzial für widerstreitende Auffassungen bereitgehalten und womöglich alljährlich in routinierten Festveranstaltungen nur begrenzt Leidenschaften entfacht. Gerade weil sie umstritten blieb und sich gegen eindeutige historisch-politische Narrative sträubte, bot sie Anlass für geschichtspolitische Auseinandersetzungen, an denen sich intellektuelle Sehnsüchte und Deutungskämpfe entzündeten. Davon ist auch in der frühen Bundesrepublik noch einiges zu spüren: Auf der einen Seite diente die Novemberrevolution nicht der Traditionsstiftung, jedenfalls nicht im Sinne eines hell strahlenden Erinnerungsortes. Sie war überwiegend Teil der Fixierung auf Weimar als Negativfolie, von der es sich abzugrenzen galt. Bonn ist nicht Weimar lautete Fritz René Allemanns Buchtitel von 1956, der schnell zu einem Motto der jungen Bundesrepublik avancierte. Auf der anderen Seite stand eine Phalanx intellektueller Kritiker, die zumal während der Ära Adenauer ihre Restaurationskritik mit Revolutionssehnsucht verbanden. Daran zeigte sich, wie sehr die Bonner Intellektuellenszene in den frühen Nachkriegsjahrzehnten an Weimarer Traditionen anknüpfte und den Nonkonformismus gegenüber neu formulierten Zwängen zur Parteinahme während des Kalten Krieges verteidigte, um eine wahrhaft demokratische Lebensform mit intellektuellem Aufbruch zu verbinden. 6
Um die Weimar-Bonn-Dramaturgie einzufangen, sind die meisten Beiträge in dieser Zusammenstellung zäsurübergreifend angelegt. Sie untersuchen, an konkreten intellektuellen Akteuren orientiert, den Zusammenhang von Lebens- und Zeitenwenden, von Erfahrungs- und Intellektuellengeschichte. Die daraus sich ergebenden Dynamiken und Transformationen stehen im Mittelpunkt einer kontextorientierten Intellectual History , die Ideen- und Zeitgeschichte miteinander kombiniert. Außerdem geraten verschiedene politische Spektren von links bis rechts in den Blick. Erneut sind es aber nicht festgefügte Lagerzugehörigkeiten, die besonders interessieren, sondern in Bewegung befindliche Areale des Übergangs und Umbaus sowie Reaktionsund Anpassungsleistungen von Intellektuellen gegenüber gewandelten Zeitläuften. Diese konnten Prozesse einer Radikalisierung verstärken, wie sie anhand der Dolchstoßthese und rechtsradikalen Verschwörungsmythen nach 1918 deutlich werden, aber auch deradikalisierende Tendenzen, wie sie am Beispiel von einstigen Protagonisten der Weimarer Weltbühne wie Axel Eggebrecht und Kurt Hiller ungeachtet mancher Ambivalenz ablesbar sind. Gerade Hiller liebte den Streit und teilte gern hart gegen intellektuelle Widersacher aus. Schon 1924 hatte ihn Carl von Ossietzky als jemanden charakterisiert, der einen „tintentriefenden Tomahawk“ schwinge. 7In der Bundesrepublik schleuderte Hiller diesen bisweilen umso heftiger, weil er darunter litt, dass der bundesdeutsche Medien- und Verlagsmarkt mit ihm, ungeachtet seines geistigen Heroen-Nimbus aus Weimars Tagen, nur noch wenig anzufangen wusste.
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