In jüngerer Zeit deutet sich indes ein Abschied von der erinnerungskulturellen wie historiografischen Revolutionslethargie an. Das Hundertjahres-Jubiläum 2018/19 trug dazu ebenso bei wie ein wieder gewachsenes Interesse an Krisen-, Umbruchs- und Revolutionsphasen in einer Zeit neuer Unsicherheiten. 3Hinzu kommt seit einigen Jahren ein zunehmend ergebnisoffener Blick auf die Weimarer Republik, der es ermöglicht, Interpretationen zur Novemberrevolution von normativen und quasi-teleologischen Einfärbungen zu befreien. Dies korrespondiert mit einer Sichtweise auf die gesamte Zwischenkriegszeit als Periode, die sich mithilfe der räumlichen Metapher eines „Laboratoriums“ für die Erprobung politischgesellschaftlicher Ordnungsmodelle gut einfassen lässt. Schon Tomáš Masaryk kam das Europa nach 1918 wie ein „auf dem großen Friedhof des Weltkriegs errichtetes Laboratorium“ vor. 4Ein krisengeschüttelter Liberalismus forderte ebenso wie erodierende monarchische Legitimationsmuster zum Experimentieren mit neuen Varianten politischer Repräsentation heraus, zumal vor dem Hintergrund des Spannungsfelds von Imperium und Nation am Ende des Ersten Weltkriegs. 5Dies beförderte nicht zuletzt gewaltgestützte Dynamiken von Revolution und Gegenrevolution. Fast kurios mutet dabei an, dass nicht nur die Anhänger des Kommunismus einerseits und die Verfechter westlicher Zivilisation wie Demokratie andererseits transnationale Ansprüche hegten und grenzüberschreitende Netzwerke pflegten, sondern auch radikal-nationalistische Paramilitärs. 6
Ich deute diese Perspektiven nur an, um mich doch auf die Vorgänge im Herzen des Deutschen Reiches zu konzentrieren. Wie vollzog sich dort der Wandel im Einzelnen? Welche Schritte der Transition lassen sich nachvollziehen, wie sind ereignisgeschichtliche Abläufe behutsam (ohne Übernahme des berühmt-berüchtigten Politologenjargons) mit strukturellen Überlegungen zu Ursachen und Verlaufsformen des politischen Systemwechsels zu verbinden. 7Dieser Zugang ist gleichsam als Ergänzung oder auch Begrenzung des umstrittenen, regelmäßig politisch aufgeladenen Begriffs der Revolution zu verstehen. Er konzentriert sich auf Transformationen zwischen verschiedenen Staatsformen, erörtert insbesondere die Ursachen für das Ende des alten Regimes, die Übergänge zum neuen und dessen Konsolidierung. 8Eine so zugeschnittene Analyse trägt zur Systematisierung, Entnormativierung und Versachlichung bei und verabschiedet sich von einem maximalistischen Revolutionsbegriff. Ein solcher nämlich beansprucht einen weit über die staatliche und politische Ordnung hinausgehenden, fast „totalen“ Geltungsanspruch, der Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur umschließt und häufig mit dem Ziel eines utopisch anmutenden Endzustands verkoppelt ist. 9Neben dem Systemwechsel-Zugang will ich einen weiteren Weg zur Wiederbelebung der Revolution im Zeichen der Erfahrungsgeschichte, die den subjektiven Wahrnehmungswelten der Zeitgenossen zu ihrem Recht verhilft, aufzeigen und hier und da beispielhaft in die Darstellung einbinden. Wie im Falle des Systemwechsels ist dies kein gänzlich neuer Weg, aber seine Erkundung verdient eine Intensivierung, gerade weil durch eine konsequente Historisierung – so paradox es zunächst klingen mag – eine Aktualisierung gelingen kann, ohne bloß gegenwärtige Problemkonstellationen in die Geschichte zurückzuprojizieren. 10Die zwei Grundgedanken des Beitrags lassen sich also mit den beiden Schlagworten „Systemwechsel“ und „Subjektivierung“ knapp einfangen.
II. Ursachen und Verlauf des langen Novembers der Revolution 11
Auch wenn der Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts Theodor Wolff am 10. November 1918 euphorisiert von der „größten aller Revolutionen“ sprach und diese mit einem plötzlichen „Sturmwind“ verglich, so greift diese Sicht eines spontanen Umbruchs als Produkt der Kriegsniederlage doch zu kurz. 12Vielmehr reifte die Umwälzung schon „lange im Schoße der wilhelminischen Gesellschaft“ heran, wie es Volker Ullrich einmal formulierte, und blieb ihr verhaftet. 13
Ein schleichender Legitimitätsverfall der monarchischen Ordnung zeigte sich an verschiedenen Symptomen, so an der Verlagerung der Entscheidungsgewalt vom Monarchen auf die Militärspitze im Verlauf des Weltkriegs und in Form einer Systemkrise angesichts der gesteigerten Kriegsmüdigkeit, der Hungerrevolten und Massenproteste im Januar 1918. Arthur Rosenberg erkannte darin bereits eine Generalprobe für die Novemberrevolution. 14Ungeachtet solcher Vorboten wirkte das Eingeständnis der Niederlage durch die Oberste Heeresleitung Ende September 1918 wie ein Schock auf Öffentlichkeit und Politik. Schließlich hatte nicht zuletzt der Friedensschluss von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland im Frühjahr 1918 nochmals Hoffnungen auf einen deutschen Sieg genährt.
Eine erste, von „oben“ gelenkte Transformationsphase begann im Spätsommer 1918, als die Oberste Heeresleitung einen Waffenstillstand gemäß den „Vierzehn Punkten“ des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson forderte, wie dieser sie im Januar 1918 formuliert hatte. 15Die Entente-Mächte waren zu diesem Zeitpunkt allerdings zu einem solchen Entgegenkommen nicht mehr bereit und boten einen Waffenstillstand an, der einer umfassenden Kapitulation gleichkommen sollte. Außerdem wollten sie nicht länger mit Vertretern des deutschen Militärs verhandeln, verlangten vielmehr die Schaffung einer demokratisch legitimierten Regierung. Insofern wirkte Wilsons Notenoffensive auf die Parlamentarisierung des Reiches ein, ohne dass diese Initiative sogleich zu einer „Revolution von außen“ zu stilisieren ist. Weitere Aspekte sind in Betracht zu ziehen.
So befürwortete erstens die militärische Führung des Reiches, wenn auch nicht ohne den Hintergedanken der bald ins Leben gerufenen „Dolchstoßthese“ 16, eine Verfassungsrevision in Richtung Parlamentarismus; zweitens plädierten insbesondere die Mehrheitsfraktionen im Interfraktionellen Ausschuss des Reichstags – Sozialdemokraten, die liberale Fortschrittliche Volkspartei und das katholische Zentrum – für eine solche Entwicklung, auch um das „Chaos“ einer revolutionären Massenbewegung von unten zu verhindern. Die neu gebildete Regierung unter Reichskanzler Prinz Max von Baden, der auch Vertreter der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Liberalen angehörten, brachte vor dem Hintergrund des durch den Notenwechsel Wilsons ständig gesteigerten Drucks die Verfassungsreform auf den Weg. 17Am 28. Oktober traten die sogenannten Oktoberreformen in Kraft, die den Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie markierten.
Wenngleich die Novemberrevolution im Lichte der Oktoberreformen in verfassungsformaler Hinsicht gleichsam als überflüssig erscheint, so war sie dies politisch keinesfalls. Dem Staatsformen-Wechsel vom Oktober fehlte in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Zeitgenossen der Zäsurcharakter – und im juristischen Sinne war dies auch noch keine Revolution, weil sich der Wandel bis hierhin legal im Rahmen der Bismarck’schen Reichsverfassung vollzogen hatte. Vor allem aber war angesichts der materiellen Nöte, einer grassierenden Grippe-Epidemie 18und der Verarbeitung der Niederlage wenig Raum für eine theoretisch anmutende Diskussion über politische Ordnungsvorstellungen. Die öffentliche Stimmung war nicht dazu angetan, sich mit einer papiernen Verfassungsreform zufrieden zu geben. Ihr fehlte der Eros des Auf- und Durchbruchs. Oder anders ausgedrückt: Diesem Anfang wohnte noch kein Zauber inne. Auch deshalb mag man hinter Arthur Rosenbergs These von der „wunderlichsten aller Revolutionen“, bei der die Massen – im Angesicht der Oktoberreformen – wenig später „eigentlich gegen sich selbst“ rebelliert hätten, ein Fragezeichen setzen. 19
Die ebenfalls Ende Oktober einsetzende „Revolution von unten“ drängte auf die Abdankung des Kaisers als stärkstes Symbol für das Ende der alten Ordnung. So diffus die „Programmatik“ der neu ins Leben gerufenen Arbeiter- und Soldatenräte, die in jener Zeit übrigens in ihrer Mehrheit überaus friedfertig, diszipliniert und in engem Verbund mit der Sozialdemokratie agierten, auch war, so zielten sie doch auf die dauerhafte Überwindung des Ancien Régimes . Die Bildung von „Räten“ war der äußeren Form nach durch die Revolution in Russland motiviert. Diese Nachahmung war in den meisten Fällen jedoch lediglich ein von spontaner Euphorie getragener Wunsch, der keineswegs auf die Übernahme des Bolschewismus zielte. 20Räte zu gründen schien einer allgemeinen Mode zu entsprechen. Mit spöttischem Unterton notierte der Heidelberger Mediävist Karl Hampe am 14. November 1918 in seinem Tagebuch: „Man überbietet sich allenthalben in Gründungen von allen möglichen Räten: Bauernräte, Bürgerräte, geistige Räte, Kunsträte, Theaterräte. Die deutsche Vereinsmeierei ist in die Arme der Revolution geflüchtet!“ 21
Читать дальше