So unterschiedlich ihre Karriere- und Lebenswege verliefen, blieb doch die Weltbühne ein zentraler Sehnsuchtsort für heimatlose Intellektuelle wie Eggebrecht und Hiller. Auch auf William Schlamm traf dies zu. Seine Biografie war die eines hartnäckigen Nonkonformisten, der sich vom Kommunisten und Linksintellektuellen während der 1920er und 1930er Jahre zu einem Konservativen entwickelte, der seit den 1940er Jahren mit provokativen Positionen auf sich aufmerksam machte. In letztgenanntem Spektrum bezog er allerdings eine Außenseiterstellung, die Revolution weiterhin für ein geeignetes, vielleicht sogar notwendiges Mittel der Politik zu halten. In Umkehrung der Verhältnisse, wie sie sich in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg präsentierten, so argumentierte Schlamm, müsste die Revolution nun von rechts ausgehen angesichts einer Drift der politischen Verhältnisse, wie er sie spätestens nach „1968“ in polarisierten und zunehmend von der Linken dominierten Zeiten beobachtete.
Als wendungs- und anpassungsfähiger als die Erben der Weltbühne erwies sich im rechten Spektrum der Herausgeber der Deutschen Rundschau Rudolf Pechel. Er schloss schnell seinen Frieden mit der westdeutschen Demokratie und ließ nur noch wenig aus den konservativ-revolutionären Ideenwelten der Weimarer Tage durchschimmern. Insgesamt sollte er sich von nationalistischen und demokratieskeptischen Positionen verabschieden und zur Erneuerung eines liberalisierten Konservatismus beitragen, der sich gut in das Umfeld eines Antikommunismus während des frühen Kalten Krieges fügte. Indirekt lässt sich an Pechels Lern- und Umorientierungsleistung, die über eine instrumentelle Aneignung westlich-pluralistischer Leitmotive hinausging, der Erfolg eines Konsensliberalismus ablesen. Diesem sollte es nach 1945 gelingen, auch in konservative und sozialdemokratische Milieus einzudringen, dort einen pragmatischen Grundton zu etablieren und den Revolutionsblues in den Hintergrund zu drängen.
Nicht selten kamen die Angebote, Tradition zu bewahren und sich in den Basistrend einer Modernisierung und Liberalisierung nach 1945 einzufügen, von außen. Dies zeigte sich exemplarisch daran, wie nachhaltig der amerikanisch-englische Schriftsteller T. S. Eliot nicht nur als Lyriker, sondern auch und insbesondere als Intellektueller im deutschen politischen Feuilleton der Nachkriegszeit reüssierte. Mit ihm schien der Aufbruch zu neuen Ufern bei Bewahrung alter Werte möglich. Schon Thomas Mann hatte Eliot deshalb treffsicher als einen „erinnerungsvollen und immerfort aus der Kultur citierenden Revolutionär von konservativ traditionalistischer Haltung“ bezeichnet. 8Das Revolutionäre, je nach Würdigung als Odeur oder Odium, umwehte auch die Ideen von John Maynard Keynes. Während der Zwischenkriegszeit entfaltete der britische Ökonom und Zeitdiagnostiker eine große Ausstrahlungskraft auch und gerade in Deutschland. Insbesondere im bürgerlich-liberalen und gemäßigt-sozialdemokratischen Spektrum sorgten die mit seinem Namen verbundenen Ideentransfers dafür, abseits marxistischer Modelle einen sozialverträglichen Kapitalismus mit politischem Liberalismus in Einklang zu bringen.
Wie wenig es dabei aber um allzu lineare Adaptionsprozesse und Heldengeschichten einer Liberalisierung geht, lässt sich auch für Keynes an einem widerspruchsvollen Zusammenhang studieren: In seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe der General Theory von 1936 demonstrierte er die Vorteile einer stärker kontrollierten Wirtschaft in einer Diktatur für die Umsetzung seiner wirtschaftspolitischen Richtlinien, ohne damit seine liberal-individualistischen Grundüberzeugungen in Frage stellen zu wollen. Diese Episode verleiht einem Spannungsreichtum Ausdruck, wie er im Wechselverhältnis zwischen liberalen und demokratischen Vorstellungen in der Zwischenkriegszeit bestand. Eine gleichsam ahistorische Theoriegeschichte lässt sich selbst für den Autor einer General Theory kaum schreiben. Auch sie ist, wie die Geschichte des Liberalismus während der Weimarer Republik überhaupt, im „Modus eines konstellationsabhängigen Denkens“ zu ergründen. 9
Eine Intellectual History , die diesen Namen verdient, sieht sich zudem herausgefordert, die Eisenspäne des politischen Denkens nicht den Gesetzen eines Magnetismus folgend auf das Ergebnis der jeweils nächsten großen Zäsur auszurichten, sondern in ihrer Zeitgebundenheit – ohne Umkehrung der Chronologie – nachzuvollziehen. Gleichwohl bleiben Fragen nach dem Anteil der Intellektuellen am Scheitern der Weimarer Republik wie später am Erfolg der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik legitim und wichtig. Nur dürfen die Antworten nicht im Sinne telelogisch ausgerichteter Niedergangs- oder Ankunftsgeschichten erfolgen.
Dies gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn man die Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik als die Geschichte eines ermattenden Revolutionswunsches schreibt, als eine Art schleichenden Prozess, in dem Erfahrung über Utopie obsiegte, ohne dieses Widerspiel überhaupt stets als Kampf wahrzunehmen. Der Band schließt mit diesem merkwürdigen Vorgang, der nochmals einen Bogen schlägt von Ideenformationen der Weimarer Republik hin zu Ideentransformationen einer Bundesrepublik, die Kritik an Staat und Demokratie ausdrücklich zuließ und so mehr Affirmation bewirkte als so manchem Gesellschaftskritiker recht war. In solchen Momenten des Selbstzweifels und der Entrüstung rief der eine oder andere unter ihnen eine Reminiszenz an die risikobehaftete Intellektuellenexistenz zu Weimars Zeiten wach. Es blitzten dann mindestens habituelle Beharrungskräfte, nämlich eine kämpferische und anspornende Außenseiterrolle einnehmen zu wollen, kurzzeitig auf. In diesen Augenblicken, so verklärend sie in der Rückschau sein mochten und den Zustand einer politischen Heimatlosigkeit geradezu heroisierten, rückten revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte nochmals nahe zusammen.
Die in diesem Band versammelten Aufsätze erschienen erstmals in meist etwas kürzerer Form zwischen 2009 und 2021. Für dieses Buch wurden sie durchgesehen, korrigiert, teilweise ergänzt, modifiziert und behutsam aufeinander abgestimmt. Zudem wurden die ursprünglich ohne Anmerkungen publizierten Essays mit Verweisen versehen. Die Texte können keine vollständige oder auch nur repräsentative Zusammenschau zur Geschichte der Intellektuellen in Deutschland während des wendungsreichen 20. Jahrhunderts bieten. Es sind Probebohrungen im Übergangsbereich von Geschichts- und Politikwissenschaft auf einem gleichermaßen zeit- wie ideenhistorischen Feld, dessen Erschließung ein möglichst breites Spektrum von intellektuellen Akteuren und Herausforderungen zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik erkennbar werden lassen soll. Kontinuität und Wandel des politischen Denkens, insbesondere des Staats- und Demokratieverständnisses, interessieren dabei ebenso wie Fragen nach dem Status und Rollenverständnis von Gesellschaftskritikern in unruhigen Zeiten. Für die Idee und Anregung zu diesem Buch danke ich ganz herzlich meinem Freund und Kollegen Jens Hacke sowie Axel und Irmela Rütters von der Europäischen Verlagsanstalt. Christoph Claussen danke ich schließlich für seine kritische Lektüre und kundige Korrektur der Texte.
Axel Schildt war mir in allen zeit- und intellektuellengeschichtlichen Fragen ein wichtiger Mentor, darüber hinaus ein wunderbarer Freund. Der Erinnerung an ihn möchte ich diesen Band widmen.
Revolution! Revolution?
1.
Systemwechsel und Subjektivierung
Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 als politische Transformations- und Erfahrungsgeschichte
I. Einleitung
Wenn Historiker streiten, gilt nicht selten ein abgewandeltes Clausewitz-Wort: nämlich dass Geschichte dann als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln erscheint. Auch und gerade die deutsche Revolution von 1918/19 war ein herausgehobenes Streitthema einer zankenden Historikerzunft während des Kalten Krieges. Es kam dabei zur Vermengung von geschichtswissenschaftlichen mit geschichtspolitischen, häufig den Geist der Zeit atmenden Argumenten. Von den einst heftig ausgefochtenen Debatten über ein Entweder-oder zwischen freiheitlicher Demokratie und Bolschewismus, über verpasste Chancen und nicht ausgeschöpfte Handlungsoptionen, über Dritte Wege und ein höheres Maß an Demokratisierung ist allerdings schon seit geraumer Zeit kaum noch etwas zu spüren. Der Forschungsstand präsentierte sich ab den 1980er Jahren als festgefahren, die ausgebliebene öffentliche Würdigung bot einigen Anlass, von einer „vergessenen Revolution“ zu sprechen. 1Überhaupt hält die 1918er-Revolution gelegentlich als Beleg dafür her, dass den Deutschen Revolutionen grundsätzlich nicht liegen und sie ihnen stets misslingen würden. Fünfzig Jahre nach der Novemberrevolution diagnostizierte Joachim C. Fest im Spiegel ein entsprechendes „Unvermögen“ der Deutschen, das am Beispiel des Umbruchs von 1918/19 besonders deutlich zum Ausdruck gekommen sei. Am Ende „proklamierte die Weimarer Verfassung eine Revolution“, urteilte Fest vernichtend, „die niemals stattgefunden hatte“. 2
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