Es war später Nachmittag, als er zur Clubsauna in St. Georg ging. Seit seine Freundschaft zu Ende gegangen war, hatte er den Club und die dazugehörende Sauna öfter als sonst aufgesucht - gewiss nicht täglich, aber doch oft genug, um sich zu entspannen, um auf andere Gedanken zu kommen. Dabei mied er die schrillen Typen, die exaltierten Typen die immer der Ansicht waren, man müsse sich "outen". Hans machte kein Geheimnis aus seinem "Anderssein", aber er ging damit nicht hausieren.
Er blieb dort recht lange, ehe er mit der U-Bahn zu Hohe Luft fuhr, und von dort zu den Grindelhochhäusern ging, wo er im vierten Stock in einem der Häuser wohnte. Es war ein kleines Apartment, sehr spartanisch möbliert, aber das genügte ihm. Er war so oft unterwegs gewesen, sodass ihm eine größere Wohnung mit vielen Kostbarkeiten nur Last gewesen wäre, von den Kosten einmal ganz abgesehen. Als Erwin noch lebte, hatte er - mit ihm - eine wesentlich größere und schöne Wohnung in Othmarschen gehabt. Die hatte er aufgegeben, und was zu verkaufen gewesen war, hatte er verkauft. Was geblieben war, hatte Platz in einem Karton gefunden. Mehr, und vor allem Schnick-Schnack, brauchte Hans nicht.
Das Grindelviertel, in dem Hans wohnte, war einst, in der Zeit von etwa 1905 bis nach dem 1. Weilkrieg, ein Zentrum des jüdischen Lebens gewesen, vor allem in den Bereichen Kultur und Bildung. Hans hatte sich immer wieder vorgenommen, mehr darüber zu erfahren, aber er war davon abgekommen, denn für genauere Nachforschungen fehlte ihm die Zeit und auch das Geld. Und jetzt gab es wieder einen Grund, seine Neugier zu zügeln - das Angebot der Rastenberger war nun dazwischen gekommen.
Am nächsten Vormittag rief er Gustav Rastenberger an und erklärte, dass er Gefallen an der Traum-Idee gefunden habe, und er würde sich sehr gern noch einmal darüber unterhalten. Es war unverkennbar, dass Gustav sich über die Entscheidung von Hans freute, und als Hans sich am frühen Abend in dessen Villa einfand, schien es für einen Augenblick, als würde Gustav den jüngeren Mann in die Arme nehmen, was er aber nicht tat. Auch Annegret freute sich, Hans wieder zu sehen und zu erfahren, dass er an dem Projekt "Traum" interessiert sei.
"Sie haben sich richtig entschieden”, erklärte Annegret mit einem Lächeln. Als Hans sie fragend anschaute, sagte sie weiter: "Der Traum ist es wert, gelebt zu werden."
Während des Abendessen begannen sie bereits, sehr konkrete Pläne zu diskutieren, die zeigten, dass sich Gustav und Annegret schon seit langer Zeit mit dem Projekt "Traum" befasst hatten. Gustav würde am nächsten Tag mit seinem Anwalt die nötigen rechtlichen Schritte besprechen und einleiten, um zum einen die Partnerschaft vertraglich abzusichern, und um die richtigen Schritte zur Gründung und Eintragung einer GmbH zu tun. Zu diesem Zweck müsste Hans ihm seine Daten angeben, vor allem Geburtsdatum, Wohnort, und dergleichen mehr. Er würde in der Bank ein Sonderkonto einrichten, aus dem alle anfallenden Kosten abzudecken seien und zu dem Hans Vollmacht erhalten würde. Gustav betonte, dass er nicht mit Krediten operieren werde, denn es seien genügend Eigenmittel vorhanden, die er kurzfristig aus Anlagen herausziehen würde. Kredite würde das ganze "Traumprojekt" nur teurer machen.
Hans seinerseits würde die Hamburger Werft aufsuchen, die das Schiff gebaut hatte und wo das Schiff auch lag, um das Schiff zu besichtigen und um Möglichkeiten und Kosten des Umbaus zu besprechen.
"Das sind alles Details”, meinte Annegret, "aber wann fangen wir an? Wann ist Tag 1?"
"Das war heute”, antwortete Gustav. Hans musste lachen. Das Projekt "Traum" hatte begonnen, ab jetzt musste er intensiv arbeiten.
Es war spät, als Hans die Rastenberger verließ. Gustav und Annegret waren noch nicht müde, sie saßen noch eine ganze Weile im sogenannten Salon. Sie konnten noch nicht schlafen, sie waren viel zu sehr freudig erregt.
"Jetzt gibt es kein Zurück”, meinte Annegret, und sie lachte. Sie freute sich auf die Verwirklichung des Projektes. Das Schiff für die Senioren sei immer noch besser als ein Seniorenheim, es sei auch besser, als dieses Haus mit dem Grundstück zu behalten. Alleine könnten sie das Haus nicht in Ordnung halten, und immer auf fremde Hilfe angewiesen zu sein sei auch nicht gerade lustig. Zur Zeit beschäftigten sie fünf fest angestellte Hilfen, drei im Haus, zwei im Garten. Sie hatten ordentliche Verträge, Steuern und Sozialabgaben mussten abgeführt werden. Annegret nahm sich vor, sich mit den Angestellten zusammenzusetzen, um ihnen die Pläne mitzuteilen.
*
Herbert Vandelt war eine große, eindrucksvolle Erscheinung. Er war gewiss um die 1.90 m groß, sehr schlank, stets äußerst sorgfältig und elegant gekleidet. Alles an ihm war von einer sorgfältigen Eleganz, das fing mit der Frisur seiner weißblonden Haare an und hörte bei den Schuhen auf, die so aussahen, als seien sie zum ersten Mal in Gebrach genommen worden. Sehr beeindruckend war auch seine tiefe Stimme, er sprach langsam, einprägsam und die banalsten Dinge klangen aus seinem Mund immer sehr wichtig.
Auf Empfängen und Gesellschaften am Rande von Kongressen war Herbert stets eine gefragte Figur. Damen und Herren suchten Gespräche mit ihm, denn er vermittelte immer den Eindruck, als höre er gut zu, als gebe es nichts Wichtigeres als das, was der Gesprächspartner gerade zu sagen hatte. Herbert Vandelt galt in der Geschäftswelt als einflussreicher Türöffner, als Lobbyist erster Klasse. Er kannte "Gott und die Welt", wie man so sagte, und er hatte seine Freunde in fast allen wichtigen Schlüsselpositionen und Gremien. Brauchte man seine Unterstützung bei schwierigen Kreditverhandlungen, oder bei der Zusammenlegung oder Zerschlagungen von Firmenteilen, so war er der richtige Mann. Gewiss, er hatte seinen Preis, aber das waren die Ergebnisse auch wert. Es sah auch so aus, als sei er stets gut informiert, aber er stand auch in dem Ruf, diskret zu sein.
Es schien in der Wirtschaft Mode geworden zu sein, gestandene, gut gehende Unternehmen zu untersuchen, um einige Geschäftsbereiche auszugliedern. Da hieß es, dass zum Beispiel der gesamte Transportbereich auszugliedern sei, oder dass sogar Teile der Mitarbeiter in einer neuen Firma zusammengefasst werden sollen, um dann wieder an die alten Produktionsstätten "ausgeliehen" zu werden. Bei diesen Machenschaften wurde kurzfristig viel Geld verdient - bei den Managern, denn es gab neue, gut dotierte Managementpositionen. Mittel- und vor allem langfristig führte so etwas sehr oft zum Ruin. Das gehobene Management hatte Vorteile, das mittlere und untere Management sowie die meisten Arbeiter und Angestellten zahlten die Zeche, und viele verloren den Job. Es gab dabei auch steuerliche Vorteile, vor allem, wenn Verluste geschrieben wurden. Dann zahlte der Fiskus die Zeche ganz oder teilweise.
Herbert war Spezialist solcher Machenschaften, und er verdiente gut daran. Fragte man nach seinem Beruf, so antwortete er, er sei Firmengründer. Er war nicht Unternehmensgründer, denn meistens blieb das Unternehmen bestehen, das aber plötzlich in zwei oder drei Firmen aufgeteilt wurde Herbert war natürlich bestens vernetzt, was die führende Wirtschaft und die Politik betraf. Er kannte natürlich auch Gustav Rastenberger - es war so etwas wie eine Pflicht, solch einen millionenschweren Menschen zu kennen. Und so traf man sich bis zu Gustavs Ausscheiden in verschiedenen Ausschüssen, tauschte Neuigkeiten aus, wenn es denn welche gab. Gustav war, was seine Geschäfte bis zu seinem Ausscheiden betraf, sehr "zugeknöpft", und es war nie einfach, gute Informationen aus ihm herauszuholen. Und doch, oder vielleicht gerade deshalb pflegte Herbert die gute Beziehung zu Gustav.
Das hörte auch nicht ganz auf, als Gustav sich vollends aus dem aktiven Wirtschaftsleben zurückgezogen hatte. Auch im Ruhestand war Gustav "millionenschwer", und das viele Geld, für das Herbert viele gute Ideen hatte, existierte noch. So kam es, dass Herbert gelegentlich nach Harburg fuhr, ganz einfach, um sich nach Gustavs Wohnbefinden zu erkundigen. Natürlich sprach man da auch über die fortlaufenden Änderungen in Politik und Wirtschaft, über Zusammenbrüche, über Neugründungen, und gelegentlich fragte Herbert indirekt und gewiss nicht aufdringlich, was Gustav denn mit seinem Geld vorhabe.
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