»Ich danke dir, dass du mich nicht wieder angestarrt hast.«
Ich wagte nicht, den Blick in das Antlitz des Herrschers zu richten und verneigte mich schweigend.
»Was hat er dir gesagt?«, wollte Iya wissen, als wir später nebeneinander auf unseren Schlafmatten in unserer Zelle lagen.
»Ach nichts«, sagte ich. »Weißt du, warum der König in Mempi ist?«
»Nein, das weiß ich nicht. Aber ich habe doch gesehen, dass er dir etwas zugeflüstert hat«, beharrte Iya. »Und Sethi hat dich nicht geschlagen.«
»Lass mich in Ruhe, Iya. Ich bin müde«, murmelte ich. Schlafen wollte ich nicht. Ich wollte das Gefühl seines Körpers an meinem immer wieder spüren.
Am zweiten Tag des Neujahrsfestes hatte das Volk Zutritt zum großen Sonnenhof. Die Tempeltore öffneten sich und ließen Hunderte von Betenden ein, die bei den Priestern eine Spende abgaben. Ich stand mit Sethi im Sonnenhof und hielt für ihn die Schale, in der sich die Kupferbarren und Goldringe häuften.
Die Gläubigen näherten sich ehrfürchtig dem im Sonnenhof aufgestellten Schrein mit der Barke des Ptah, die am Vortag durch die Straßen von Mempi getragen worden war. Viele hatten an diesem Tag kleine Ptah-Statuen bei sich, die sie durch die Gottesdiener weihen ließen. Gegen ein geringes Entgelt nahmen die Priester die Statuen entgegen und brachten sie ins Allerheiligste, wo sie diese weihten und dann zu ihren wartenden Besitzern zurückbrachten.
Immer wieder verschwand Sethi mit einer oder zwei kleinen Figuren aus Holz oder Ton im Allerheiligsten und kam zurück. Die Statuen waren dann in weiße Leinentücher gewickelt.
»Sethi, was hat der König gestern Abend im Allerheiligsten getan?«
»Er hat Atum-Re zum Obersten Gott des Reiches erkoren, und das hat er gestern Abend Ptah im Gebet mitgeteilt. Ptah scheint die Oberherrschaft des neuen Gottes anerkannt zu haben, denn er akzeptierte die rituellen Handlungen durch den König, den Hohepriester des Atum.«
»Seneferu ist Hohepriester des neuen Gottes?«, fragte ich überrascht.
»Er hat sich selbst dazu ernannt.«
»Wann wird der Tempel des Atum fertig gestellt sein?«
Sethi zuckte mit den Schultern. »Die Fundamente sind gelegt, glaube ich. Ich war lange nicht draußen.« Mit draußen meinte er die Welt außerhalb des Tempels.
»Gehst du nie nach draußen, Sethi?«
»Nein, was soll ich da?«
Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Aber ich wusste, was ich dort wollte: Ich wollte das Leben suchen, die Liebe, das Glück, die Freude und die Zufriedenheit, die ich im Tempel nicht finden konnte. Ich wusste, ich würde in meinem Leben niemals an die Oberfläche gelangen, um das Licht zu sehen, wenn ich nicht fest an mich glaubte und bereit war, gegen die Strömung des Lebensflusses, die mich fortzureißen drohte, anzukämpfen. Immer wieder. Ohne müde zu werden.
Ich fühlte mich im Tempel eingesperrt und fragte mich, ob mir die Weihe zur Priesterin überhaupt Erfüllung geben konnte. Die Initiation zur Gottesdienerin würde bedeuten, dass ich den Tempel nur noch selten verlassen könnte. Also beschloss ich, Schreiber zu werden, und malte mir meine Zukunft in allen Farben aus, die Träume haben können.
Kemet war ein streng zentral geführter Staat, der über eine äußerst effektive Verwaltung in den Tempeln, den Palästen der Gaufürsten und den Ministerien der Hauptstadt verfügte. Die Grundkenntnisse der Schreiberausbildung hatte ich mir in der Tempelschule bereits angeeignet, die Priesterwürde Ersten Grades würde ich in einem Jahr erlangen. Nach der Priesterweihe wollte ich den Tempel verlassen, um mir eine Position zu suchen. Vielleicht würde ich Schreiber bei einer reichen Dame werden mit umfangreicher Korrespondenz im ganzen Land? Oder vielleicht würde mich ein Kaufmann einstellen, der in den Fremdländern Handel trieb.
Als Sethi mich fragte, aus welchem Grund meine Leistungen in der Tempelschule von einem Tag auf den anderen sprunghaft anstiegen, antwortete ich ihm: »Ich will Schreiber werden.«
»Der Beruf des Schreibers wird vom Vater auf den Sohn vererbt«, schüttelte er den Kopf. »Du kannst nicht Schreiber werden.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil du eine Frau bist. Frauen werden nicht Schreiber.«
»Aber es ist doch nicht verboten! Es hat schon Frauen gegeben, die Schreiber waren.«
»Ja, das ist wahr. Ganz besonders privilegierte und begabte Frauen hatten in der Vergangenheit das seltene Glück, die Prüfungen zu bestehen und Schreiber zu werden. Aber es waren nur zwei in den vergangenen hundert Jahren.«
»Dann werde ich die Dritte sein!«, nahm ich mir vor.
Sethi sah mich nachdenklich an. »Wenn es jemand schaffen kann, dann du, Nefrit!«
Noch am gleichen Tag informierte ich die Tempelverwaltung darüber, dass ich meinen Ausbildungsgang ändern wollte. Angesichts der ungläubigen Gesichter zweier Tempelschreiber trug ich mich aus der Liste der Kandidatinnen aus, die Priesterin Fünften Grades werden wollten, und schrieb meinen Namen in eine kürzere Liste von Schülern, die die Ausbildung zum Schreiber absolvierten. Als ich die Namen durchsah, stellte ich fest, dass nur junge Männer den Unterricht besuchten.
Am nächsten Morgen brachte mich Sethi zu Niuser und verabschiedete sich von mir. Sethi war zuständig für den Lehrgang zum Priester Ersten Grades, nicht für den Ausbildungsgang zum Schreiber. Niuser war ein ehemaliger Minister in der Regierung von Huni, der sich nach der Thronbesteigung Seneferus in den Tempel zurückgezogen hatte.
In der letzten Reihe nahm ich auf einer Schilfmatte Platz und legte mein Schreibbrett auf die Knie. Ich war die einzige Frau unter fast dreißig jungen Männern. Ich betrachtete sie, während Niuser über grammatikalische Feinheiten und offizielle Höflichkeitsfloskeln in Briefen an die Verwaltung referierte.
Khai war wie ich fünfzehn Jahre alt. Ramses war sechzehn oder siebzehn, ein sehr attraktiver junger Mann. Neben mir saß Senenmut, der mir von Anfang an sympathisch war: Sein Lächeln konnte verzaubern.
Ramses beugte sich zu mir herüber, als Niuser uns gerade den Rücken zuwandte, um mit Holzkohle etwas an die Tempelwand zu schreiben.
»Was, bei Thot, willst du hier, Nefrit?«, flüsterte er.
»Ich werde Schreiber.«
»Du kannst nicht Schreiber werden! Du bist eine Frau: Verschwinde!«
Ich war entsetzt über seine Worte. Fühlte er sich als Mann mir überlegen?
»Du hast mich nicht verstanden, Ramses!«, klärte ich ihn auf. »Ich sagte nicht: Ich will Schreiber werden. Ich sagte: Ich werde Schreiber!«
In der Mittagspause saß ich allein auf den Stufen, die zum Heiligen See hinunterführten. Die Jungen beratschlagten im Schatten des Tempels, wie sie mich loswerden konnten. Einerseits machte mir ihr Verhalten Angst, denn ich war allein, andererseits war ich stolz auf meinen Mut, es mit neunundzwanzig Jungen aufzunehmen, besonders jetzt, da sie sich offensichtlich gegen mich verbündeten. Als Senenmut zu mir herüberkam, wusste ich, dass sie noch einmal vernünftig mit mir reden wollten.
»Überbringst du mir die Kriegserklärung?«, fragte ich ihn kaltblütig.
»Wir sind der Meinung, dass du nicht Schreiber werden kannst.«
»Und warum nicht?«
»Weil du eine Frau bist.«
Ich setzte die unbewegliche Maske auf, die ich bei Seneferu beobachtet hatte und die ich in den folgenden Jahren bis zur Perfektion beherrschen sollte. »Ja, und?« Ich sah ihm direkt in die Augen, als erwartete ich von ihm eine ausführliche Begründung.
Er konnte meinem Blick nicht standhalten. »Frauen werden nicht Schreiber!«
»Ich schon, Senenmut. Ich werde Schreiber!«
»Das werden wir sehen!«
Am Nachmittag saß ich allein in der letzten Reihe. Senenmut hockte sich auf der anderen Seite des Raumes auf den Boden, um Niusers Unterricht zu folgen. Niuser registrierte diesen Platzwechsel mit einem amüsierten Grinsen und fuhr mit seinem Unterricht fort.
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