»Ich stamme aus der Residenz Pihuni«, sagte Iya. »Mein Vater ist General Horemhab vom Amun-Regiment. Er ist ein Cousin von Huni.« Iya kniff die Augen zusammen und beobachtete, ob ich angemessen auf ihre Verwandtschaft mit der königlichen Familie reagierte.
»Dann ist dein Vater ein wichtiger Mann!« Ich beschloss, erst einmal Freundschaft zu schließen. Das ging am einfachsten mit einem Lächeln. »Seit wann bist du hier, Iya?«
»Seit vier Tagen und sieben Stunden.«
»Du zählst die Stunden, seit du hier bist?«, fragte ich erstaunt.
»Ich werde die Stunden zählen, bis ich hier wieder herauskomme.« Iya seufzte. »Vielleicht mache ich nur das erste Jahr und lasse mich zur Tempeldienerin ausbilden. Dann höre ich auf und heirate.«
Iyas Augen waren in ständiger Bewegung. Sie sah mich nicht an, während sie mit mir sprach, sondern schien die Welt nach Dingen abzusuchen, die sie noch nicht kannte oder noch nicht genossen hatte. Die Welt durfte ihr nichts vorenthalten.
»Hast du schon einen Versprochenen?«, fragte ich.
»Mein Vater hat einen Offizier gefunden, den ich heiraten werde. Er glaubt, dass mein Verlobter eines Tages General sein wird. Er ist sehr ehrgeizig: Das gefällt meinem Vater.«
Die Morgenriten begannen mit der rituellen Reinigung am Heiligen See. Danach öffnete ein Priester, der einen Schurz aus plissiertem Goldstoff und ein Pantherfell über den Schultern trug, das Tor zur Großen Halle. Tempeldiener brachten die Götternahrung in goldenen und bronzenen Schüsseln und Gefäßen in die Nebenräume der Heiligen Halle, wo sie die Opferträger abholten und in die Säulenhalle vor dem Allerheiligsten brachten.
Nach dem Öffnen des Götterschreins weckten die Gottesdiener Ptah mit Morgengesängen und Sistrenmusik, stellten die Opfergaben vor ihn hin und zogen sich zurück, um den Gott nicht beim Göttermahl zu stören. Die goldene Statue wurde gewaschen und neu eingekleidet, die von der symbolischen Mahlzeit übrig gebliebenen Speisen entfernt.
Dann wurde ihm die Maat geopfert. Die Maat ist der im Schöpfungsakt gesetzte richtige Zustand in der Natur und der Gesellschaft von Kemet. Maat ist Recht, Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit. Indem die Maat rituell geopfert wurde, wurde der Kosmos in Gang gehalten. Die Welt bedurfte einer unablässigen Inganghaltung durch die Riten.
Was Ptah an diesem Morgen nicht zu sich genommen hatte, wurde unter den Priestern verteilt. Ich war hungrig und wartete sehnsüchtig auf das Ende der Zeremonie. Die Speisen waren dann zwar bereits kalt, aber sie schmeckten sehr gut.
Nach den Riten begann der Schulunterricht im hinteren Teil des Tempelbezirks. Nur die Priester des Amun in Weset, die des Osiris in Abodu, die des Sonnengottes Re von Iunu und die des Ptah in Mempi waren befugt, den höheren Unterricht zu erteilen, der über den der Erzieher hinausging. Der Tempel des Ptah beinhaltete neben den Kulträumen für den Gott auch eine Tempelschule für die jährlich hundertzwanzig Schüler, die sich zum Tempeldiener, zum Priester, und in einem weiterführenden Kurs zum Schreiber ausbilden ließen.
Der Schulraum war aus Schlammziegeln erbaut und wies keinerlei Verzierungen auf. Die Schüler saßen in Schreiberposition auf Schilfmatten. Vor uns hatten wir einen niedrigen Tisch, den sich jeweils zwei Schüler oder Schülerinnen teilten.
Acht Gottesdiener, die sich auf verschiedene Unterrichtsfächer spezialisiert hatten, unterrichteten uns. So hatten wir einen Lehrer für Ritenkunde und Liturgie, der uns auch die Göttermythen näherbrachte, einen anderen Lehrer für Lesen und Schreiben, was die meisten meiner Mitschüler noch nicht beherrschten. Ein Priester lehrte uns Mathematik, ein weiterer die Grundzüge der Architektur sowie der bildenden Künste wie Malerei, Reliefkunst, plastische Kunst und noch ein anderer versuchte selbst den Unbegabtesten das Musizieren mit Trompeten, Sistren, Schellen und Trommeln beizubringen. Die Mädchen hatten zusätzlich noch Übungsstunden in Tempeltanz, während die Jungen sich handwerklich als Steinmetze betätigten. Die Unterrichtsstunden bestanden jeweils aus einer Fachrichtung am Vormittag und einer anderen am Nachmittag.
Während der Mittagszeit, der Zeit des Gebetes im Tempel, saßen wir still in unseren Kammern. Die Lehrtätigkeit der Diener des Ptah ging bis zum frühen Abend, bis die Abendriten durchgeführt wurden.
Der Priester, der uns Mathematik lehren sollte, hatte an der Tempelschule des Ptah studiert. Er versprach, sich dafür einzusetzen, dass wir an der Welt der Zahlen unser Vergnügen haben würden. In dieser ersten Unterrichtsstunde zwischen Mittagsruhe und den Abendriten versuchte der Gottesdiener, gelangweilten Schülern die Zahlzeichen beizubringen. Die meisten meiner Mitschüler konnten bisher weder lesen noch schreiben, und auch die Zahlen waren ihnen unbekannt.
Da ich bereits mit dreizehn Jahren Berechnungen an der Pyramide vorgenommen hatte, langweilte ich mich und zeichnete mit meinem Pinsel eine Pyramide auf die Tonscherbe, während die anderen mühsam eine gerade Linie nach der anderen zogen, einen Bogen, eine Schleife.
Ich war so vertieft in meine Pyramidenzeichnung, dass ich nicht bemerkte, wie der Lehrer hinter mir stehen blieb, um meine Skizze zu betrachten. Dann fuhr sein Stock auf meine Hände nieder. Mehr aus Überraschung als aus Schmerz ließ ich meinen Pinsel zu Boden fallen. Die Tintenschale kippte um, und die schwarze Tinte lief über das Schreibbrett auf meinen Knien.
»Was tust du da?«
»Ich zeichne.«
»Wir haben keine Zeichenstunde, sondern Zahlenkunde. Schreib wie alle anderen auch die Zahlen eins, zehn und hundert auf deine Scherbe.«
»Ich kann die Zahlen bereits lesen und schreiben. Bis eine Million.« Ich nahm mir eine neue Scherbe aus dem Korb vor mir, tauchte meinen Pinsel in Khais Tintenschale und begann zu malen. Ich konnte nicht sehen, was er hinter mir tat, und so verhielt ich mich still. Dreißig Augenpaare waren auf mich gerichtet.
In diesem Augenblick schlug er mit seinem Stock zu. Er traf meinen Rücken. »Du bist hochmütig, Nefrit! Du willst im Mittelpunkt stehen. Du bist hier, um zu lernen, und nicht, um mit deinen Kenntnissen vor deinen Mitschülern anzugeben! Du verstößt gegen die achtzehnte Regel!« Seine Stimme klang laut wie der Donner der nächtlichen Gewitter über der Oase von Pihuni.
Ich hob die Arme und fing die stärksten Schläge seines Stocks ab.
Die Erziehungsmethode der Tempelschule, die schlechte Leistungen ignorierte, mittelmäßige Leistungen belohnte und gute Leistungen mit dem Rohrstock bestrafte, statt sie weiter zu fördern, machte mich aufsässig.
Ich wurde oft geschlagen. Weil ich während des Mathematikunterrichts bautechnische Berechnungen vorgenommen hatte. Weil ich während des Schreibunterrichts ein Buch von Neferefre, das ich in der Bibliothek des Tempels entdeckt hatte, gelesen hatte. Weil ich während der endlosen Liturgien die Reliefs an den Tempelwänden skizziert hatte, die nicht den Regeln des Imhotep entsprachen. Der geniale Bauleiter des Djoser hatte genaue Proportionsvorschriften für das Zeichnen von Menschen und Göttern hinterlassen. Ein Quadratnetz, das auf die Wand aufgebracht wurde, diente zur Festlegung der absoluten Proportionen des menschlichen Körpers. Entsprechend dem alten Kanon maß der Mensch achtzehn Quadrate von den Fußsohlen bis zur Stirn, die Quadratgröße entsprach einer Faust oder eineindrittel Handbreiten. Davon liefen sechs Quadrate von den Füßen bis zu den Knien, weitere fünf Quadrate bis zum Gürtel, nochmals fünf Quadrate bis zu den gedrehten Schultern und drei weitere bis zum Scheitel des Dargestellten. Auch die Form der Darstellung war vorgeschrieben: Männer mit vorgestelltem Bein, Frauen im Stand, Männer mit brauner Hautfarbe, Frauen in Ocker. Der Netjer war immer größer als die anderen Dargestellten, es sei denn er stand vor den Göttern.
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