Wir fielen uns in die Arme und hielten uns aneinander fest. »Meine geliebte Nefrit! Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«
»Es tut mir Leid, Vater! Es tut mir Leid, was ich dir angetan habe.«
»Schon gut, meine kleine Nefrit. Schon gut.«
Die Prozession zog an uns vorbei, während wir uns in den Armen hielten und unsere Nasen aneinander rieben.
Wir hatten uns viel zu erzählen. Ich berichtete ihm von meiner Weihe und meiner bestandenen Abschlussprüfung als Schreiber. Er erzählte mir vom Leben auf der Baustelle, das sich nach meinem Weggang nur unwesentlich verändert hatte. Prinz Nefermaat hatte die Arbeiter auf der Baustelle gnadenlos angetrieben, um den gewaltigen Bau wie vom König befohlen innerhalb von fünf Jahren fertig zu stellen. Kamose hatte daraufhin um eine Audienz beim Herrscher gebeten und sich über dessen Bruder beschwert. Erneut musste der König zwischen dem Wesir und dem Bauleiter vermitteln. Die Differenzen zwischen Nefermaat und meinem Vater schienen unüberbrückbar zu werden.
»Hast du Satamun wiedergesehen?«, fragte ich ihn, als ein Bote uns fand:
»Bist du Kamose von Tis?«
»Der bin ich.«
»Der Zeremonienmeister Seiner Majestät, Thotmes, will dich sehen. Sofort!«
Mein Vater bat mich, ihn in den Palast zu begleiten, da er nicht wusste, wie lange die Audienz bei Thotmes dauern würde.
Der Palast von Mempi war wesentlich kleiner als die Residenz von Pihuni. Die Ministerien und das Archiv mussten sich außerhalb des Areals befunden haben, als die Könige in diesem Palast residiert hatten. Der Bote führte uns durch ein großes Tor, über einen Hof zum Haus der Verehrung. Hier wohnte und regierte der König während seines Aufenthaltes in Mempi.
Während mein Vater von Thotmes empfangen wurde, lief ich im Wartesaal der Bittsteller auf und ab. Re senkte sich bereits auf den Horizont, und noch immer hörte ich nichts von meinem Vater. Hatte mein Verhalten Thotmes derart gereizt, dass er meinen Vater bestrafte? Warum dauerte die Unterredung so lange?
Die Tür öffnete sich, und ein Schreiber kam auf mich zu. »Bist du Nefrit aus Tis, Priesterin des Ptah?«
Ich folgte ihm durch die Gänge des Palastes. Mit jedem Schritt wurde ich unruhiger. »Wohin gehen wir?«
»Wohin wohl? Was soll die Frage?«
Mein Schicksal war besiegelt! Mein Vater und ich würden für die Lästerung des Lebendigen Gottes bestraft werden. Und ich wusste nicht einmal, wie ich mich verteidigen sollte. Ich war schuldig: Es gab Tausende Zeugen.
Der Schreiber betrat nach mir den Audienzraum. Die untergehende Sonne warf ein goldenes Licht in den Raum. Als sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, erkannte ich den König auf einem Stuhl direkt vor mir. Ich warf mich ihm zu Füßen und küsste den Boden unter seinen Sandalen. Mein Vater kniete neben mir. Neben ihm standen Wesir Nefermaat und ein hoher Beamter mit einer aufwändigen Perücke und einem durchscheinenden Mantel über dem plissierten Leinenschurz.
Der Herrscher sah mich schweigend an, bis ich den Blick hob. Da ich mein Leben ohnehin verwirkt hatte, wagte ich es, ihm direkt in die Augen zu sehen.
Es war ein schönes Gesicht mit leicht geschwungenen, geschwärzten Brauen unterhalb einer hohen Stirn, über der Geier und Kobra der Königswürde thronten. Seine Nase war wie von Imhotep gemeißelt, genauso wie die Lippen, die mit Henna gerötet waren. Die Augen waren mit Lapispulver blau geschminkt und ruhten auf mir. Der Göttliche schien überrascht, dass ich ihn direkt ansah. Sein Blick tauchte in meinen, aber mein Geist hielt seinem stand. »Sie entspricht ganz deiner Beschreibung, Kamose. Und sie scheint von den Göttern begünstigt, wenn sie so klug ist, wie du sie mir beschrieben hast, denn sie ist noch dazu sehr schön. Sie macht ihrem Namen alle Ehre. – Steh auf, Nefrit!«, befahl Seneferu, und ich stand auf.
Auch er erhob sich von seinem Stuhl und ging um mich herum, als wollte er mich von allen Seiten betrachten. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. »Du bist Priesterin?«
Was sollte die Frage? Das konnte er doch sehen. »Ja, Euer Majestät.«
»Dein Vater hat mir berichtet, du hättest vor kurzem die Prüfung zum Schreiber abgelegt? Stimmt das?« Sein Ton war befehlsgewohnt, und ich wusste nicht, ob er eine lange oder eine kurze Antwort erwartete.
»Ja, das stimmt.«
»Entspricht es auch der Wahrheit, dass du die Stabilitätsberechnungen meines Grabmals in Pihuni mit deinem Vater zusammen vorgenommen hast?«
»Ja, auch das ist wahr«, sagte ich zögernd.
»Dann kennst du die Schwierigkeiten bei der Errichtung einer Pyramide.«
»Ich hatte genug Gelegenheit, mich mit der Bautechnik während meiner Anwesenheit auf der Baustelle von Pihuni vertraut zu machen. Zudem beginne ich nach meiner Ausbildung als Schreiber ein Studium der Architektur, Euer Majestät.«
Er stand hinter mir, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Das machte mich unruhig. »Du hast einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen, Nefrit.«
»Ja, Euer Majestät.«
»Warum?« Ich spürte seinen Atem auf meinem Nacken.
»Weil ich immer tue, was ich will.«
Die Antwort amüsierte ihn. »Immer?«
»Immer!«, sagte ich, als er direkt vor mir stand. »Euer Majestät.«
Er sah mir in die Augen und glaubte mir.
»Weil die kluge und schöne Nefrit immer das tut, was sie will, werde ich ausnahmsweise meinen Befehl als Bitte formulieren.«
»Eine Bitte, Euer Majestät?«, fragte ich verunsichert.
»Du hast sicherlich davon gehört, dass ich entschieden habe, die Residenz von Pihuni nach Mempi zu verlegen. Mempi liegt strategisch günstiger für Kriege mit unseren Nachbarländern Amurru und Sumer. Außerdem hat Mempi einen ausbaufähigen Hafen. Ich habe Kamose befohlen, eine neue Pyramide zu erbauen. Außerdem ist er zuständig für die Baustelle des Atum-Tempels, der nächstes Jahr vollendet werden soll. Kamose hat von deinen herausragenden Kenntnissen der Bautechnik gesprochen.« Hoffentlich hatte mein Vater nicht übertrieben! Doch dann erfuhr ich, warum er diese Formulierungen gewählt hatte: »Der Wesir Nefermaat und mein Zeremonienmeister Thotmes hatten andere Pläne mit dir, Nefrit. Beide waren sehr aufgebracht über dein Verhalten während der Prozession. Thotmes ist immer noch der Meinung, dass nach dem Hofzeremoniell die Todesstrafe über Kamose und dich verhängt werden sollte. Doch dann sprach dein Vater von deinen Kenntnissen und Fähigkeiten. Da ich Kamose schätze, verzeihe ich dir dein Verhalten, obwohl Thotmes nun mir zürnt.«
Thotmes verneigte sich demütig vor dem Lebendigen Gott.
Dann fing ich wieder den Blick des Königs ein. Er drang wie ein Dolch in mich ein, doch ich hielt ihm stand.
»Du bist wirklich eine ungewöhnliche Frau! Du erstaunst mich immer wieder«, flüsterte Seneferu, um dann mit normaler Stimme fortzufahren. »Nun zu meiner Bitte an dich: du wirst während deiner Ausbildung an der Tempelschule deinem Vater auf den Baustellen helfen. Auf diese Weise kannst du während deines Studiums praktische Erfahrungen sammeln.«
»Ich werde Eurer Bitte entsprechen, Euer Majestät.«
»Das freut mich, Nefrit. Ich danke dir.«
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