Und ich wurde geschlagen, weil ich mich gegen die Schläge wehrte.
Iya vibrierte vor Anspannung wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. »Wie kannst du nur so ruhig sein, Nefrit!«
Die fünf dunklen Tage am Jahresende waren ereignislos und ohne Versinken der Welt in der Isfet vergangen. Die Neujahrsprozession erschien mir nach einem Jahr Aufenthalt im Ptah-Tempel wie die Flucht aus einem Gefängnis.
Ich war alles andere als ruhig! Wie eine Blinde, die zum ersten Mal sieht, badete ich in einem Meer aus Farben: das dunkelblau schimmernde Wasser des Hapi, das satte Grün der Gartenanlagen von Mempi, das Weiß der Lotusblüten. Wie eine Verdurstende trank ich den Duft von frisch gebackenem Brot, von Ziegenkäse, gerösteten Zwiebeln, von gegrilltem Gänsefleisch und süßem Backwerk. Wie eine Gelähmte, die sich erhebt, schritt ich neben Iya durch die Straßen von Mempi.
Ich achtete auf alles, nur nicht auf meine rituelle Schrittfolge, und Sethis strafender Blick traf mich wie der Stock des Mathematiklehrers. Ich war geblendet von den Eindrücken einer Stadt, die sich zum Neujahrsfest geschmückt hatte.
Die Prozession bewegte sich durch die Viertel der Reichen und Vornehmen, am Hafen vorbei, durch die Gebiete der Armen. Auf der langen Straße näherten wir uns dem alten Königspalast. Ich freute mich darauf, den Platz wiederzusehen, wo mein Vater und ich vor elf Jahren zwei wundervolle Tage verbracht hatten. In diesem Augenblick war ich traurig, dass mein Vater mich jetzt nicht sehen konnte, inmitten der Prozession als Tempeldienerin des Ptah.
Als wir uns dem Platz vor dem Palast näherten, nahmen die Wohlgerüche von Weihrauch und Myrrhe zu. Es duftete nach gerösteten Lotussamen, nach in Öl gebackenen Honigkuchen und anderen Leckereien. Und dann hörte ich Geflüster zwischen den Gottesdienern, die vor mir gingen. Die Priester riefen sich etwas zu, was ich nicht verstehen konnte. Worte flogen wie Vögel über mich hinweg. Was sagten sie? In dem Augenblick, als ich verstand, was sie sagten, sah ich ihn.
Seneferu trug die Sechemti-Doppelkrone, einen mit Lapislazuli und Türkis bestickten Halskragen, darüber ein Amulett in Form eines Goldhorus und einen weißen Leinenschurz, der seine Beine eng umschloss. Seine Füße waren mit goldenen Sandalen bekleidet. Er war nun einunddreißig Jahre alt, aber als Gott war er unsterblich: Wie ein Götterbild saß er unbeweglich auf seinem Thron, die Hände in der traditionellen Haltung mit Heqat und Nekhakha, Krummstab und Wedel. Seine dunklen Augen waren mit Goldstaub geschminkt – sie blickten in die Ferne jenseits des Horizontes. Wie schön er war!
Neben dem König saß die Große Königliche Gemahlin, Hotephores, eine junge Frau von zierlicher Statur und großer Anmut. Sie trug ein Gewand, das ihre Brüste freiließ, und einen Schmuckkragen, ganz mit kostbarem Lapislazuli bestickt. Ihre Perücke war lang, und die kunstvoll geflochtenen Zöpfe lagen ihr schwer auf den schmalen Schultern. Ein Diadem und Armreifen aus Gold vervollständigten ihre elegante Garderobe.
Ich war so erstaunt über die Anwesenheit des Lebendigen Gottes in der Alten Hauptstadt, dass ich vergaß, die traditionelle Schrittfolge einzuhalten. Die hinter mir schreitenden Gottesdiener stießen beinahe mit mir zusammen, weil ich zu langsam ging. Ein Priester Ersten Grades eilte herbei und schlug mich mit einem kurzen Stock, um mich zu ermuntern, die Schrittfolge einzuhalten. Die Schläge brannten wie Feuer auf meiner nackten Haut. Aber ich war mir der Aufmerksamkeit der königlichen Familie sicher. Prinz Rahotep war aufgesprungen, als wollte er mir zu Hilfe kommen. Prinz Khufu sah mir in die Augen, als bereiteten ihm die Schläge Vergnügen.
Der König sah mich an. Die wenigen Augenblicke, in denen unsere Blicke ineinander versanken, erschienen mir wie die Ewigkeit. Dann wandte er seinen Blick wieder in die Unendlichkeit seiner Gedanken und schloss die Welt aus. Das Lächeln blieb auf seinen Lippen.
Wie ich in den Tempel zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ein Priester empfing mich am Tempeltor und brachte mich in eine Zelle, in der ich stundenlang ausharren musste. Sethi erschien, um mich zu bestrafen. Er führte die Schläge nur mit halber Kraft aus: Er hatte den Blickwechsel zwischen dem König und mir bemerkt. Dann schickte Sethi mich in meine Zelle, die Kleidung für die Abendriten anzulegen.
In unserer Kammer traf ich Iya, die sich bereits umgezogen hatte. »Das ist ein aufregender Tag heute!« Ruhelos flatterte sie durch unsere Zelle. »Erst die Prozession und jetzt noch das!«
Ich dachte, sie meinte meine Bestrafung wegen der Majestätsbeleidigung.
Gemeinsam führten wir die Waschungen im Heiligen See durch, dann formierten wir uns am Tempeltor. Trotz meiner Strafe hatte Sethi mir die Aufgabe, den Gott zu waschen und zu kleiden, nicht entzogen.
Hinter mir standen die Tempeldienerinnen und Tempeldiener mit der Mahlzeit für den Gott: weißes Brot, Gänsebraten, Gemüse, Früchte, Bier und Wein. Dahinter warteten die Träger der neuen Kleidung und die Mädchen und Jungen, die die Schüsseln mit dem geweihten Wasser zur Waschung des Gottes trugen. Ich hatte in den letzten Wochen jede dieser Aufgaben durchgeführt, doch heute sollte ich die Prozession der Abendriten anführen.
»Der Tempel ist heute Abend hell erleuchtet!«, flüsterte ich Iya zu. Das Licht von Fackeln in der Großen Halle tauchte das Allerheiligste in tiefe Dunkelheit. Der Vorhang war beiseite geschoben, und der Gott stand im Licht. Vor ihm sah ich einen Mann auf dem Boden knien. Der Hohepriester? In der Dunkelheit vor der Statue des Ptah konnte ich weder die Statur noch das Gesicht erkennen.
Mit welcher Konzentration die Priester die Sistren schlugen und die rituellen Schritte durchführten! Die Tempeldiener standen in einer geraden Reihe, wie mit dem Lineal gezogen. Sie bewegten sich wie eine Person. Noch nie hatte ich eine solche Aufregung hier im Tempel erlebt.
Im Halbdunkel erkannte ich Männer und Frauen, die keine Priesterkleidung trugen. Als ich an ihnen vorbeiging, sah ich Nefermaat und Amenemhet sowie die Königin Hotephores und die Prinzen Rahotep, Khufu und Aserkaf. Die königliche Familie nahm an den Feierlichkeiten der Abendriten anlässlich des Neujahrsfestes teil!
Ich ging auf die Statue des Ptah zu und begann mit meinen rituellen Handlungen. Ich nahm die Schüsseln und Schalen mit der Götternahrung und setzte sie vor Ptah ab. Die Krüge mit Bier und Wein stellte ich etwas abseits neben die Kohlebecken mit den Weihrauchkegeln. Es war ganz still in dem kleinen Raum, als die Priester sich zurückgezogen hatten und abwarteten, dass ich die Figur waschen, salben und kleiden würde.
In diesem Augenblick erhob sich der Mann hinter mir. Im Schein der Öllampen konnte ich sehen, dass er keine priesterliche Kleidung trug.
Der König hatte seinen Blick auf das goldene Antlitz des Gottes gerichtet und beachtete mich nicht. Dann nahm er mir die Schüssel mit geweihtem Wasser aus der Hand, ohne mich zu berühren. Beinahe hätte ich das Gefäß fallen gelassen. Er ergriff den Rand, bevor das Wasser überschwappen oder die Schüssel zu Boden fallen konnte. Ohne ein Wort und einen Blick wandte er sich von mir ab und konzentrierte sich auf Ptah.
Er wusch den Gott mit einem weißen Leintuch, das er nach Benutzung zusammenfaltete und in die Schüssel mit dem Waschwasser legte. Das Tuch würde in Stücke geschnitten und am nächsten Morgen im Tempelhof verkauft werden. Das Waschwasser würde in kleine Phiolen abgefüllt und ebenfalls als Heilmittel gegen Krankheiten verkauft werden. Ich nahm die Schüssel aus seinen Händen entgegen.
Dann reichte ich ihm die Kleidung für den Gott, einen neuen Schurz, Sandalen und einen Halskragen sowie eine neue Kappe aus blauem Stoff. Als der Lebendige Gott die Zeremonie beendet hatte, nahm er einen Weihrauchkegel aus dem Kohlebecken und räucherte den Raum des Allerheiligsten, um den Gott für die Nacht vorzubereiten. Dann war die Zeremonie beendet, und ich zog mich vor dem König aus dem Raum zurück, um den Gott ruhen zu lassen. Als ich an ihm vorbeiging, berührten sich unsere Körper leicht und er flüsterte:
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